Netzwerke als Gegenstand einer Erforschung der Forschung. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Netzwerke als Gegenstand einer Erforschung der Forschung
Besprechung mit Vertretern des zuständigen Amts für Kunstinstitutionen São Paulos, 1966

Ein besonderes Kennzeichen der Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien, die im Jahre 1968 zur Gründung der Gesellschaft für Studien der Kulturprozesse führte, welche die heutige Organisation Brasil-Europa bildet, war von Anfang an die Einsicht in die Notwendigkeit, eine Erforschung der Forschung selbst zu betreiben. Dieses Anliegen resultierte nicht nur aus einer Anerkennung der Bedeutung der Ideengeschichte und der Geschichte des Denkens und der Denkströmungen für ein besseres Verständnis von kulturgeschichtlichen Epochen oder Abläufen. Es war aus einer bestimmten Situation im Brasilien der sechziger Jahren heraus entstanden, in der konstatiert wurde, dass Sichtweisen, Interpretationen geschichtlicher Entwicklungen und Gewichtungen von Fakten und Strömungen der Kultur, der Kunst und der Musik in einseitiger Weise nicht dem ganzen Spektrum des Kulturlebens gerecht wurden, sondern Fokussierungen erkennen ließen.

Die Feststellung, dass es Künstler, Komponisten und Gelehrte gab, deren Werke, Wirken und Auffassungen nicht bemerkt und beachtet wurden, in der Literatur nicht erschienen und in tonangebenden Kulturkreisen nicht wahrgenommen wurden, die jedoch in ihren Wirkungsbereichen eine bedeutende Rolle spielten, wurde als überraschende Entdeckung der Existenz verschütterter bzw. unterdrückter oder verschwiegener Kulturwelten empfunden.

Diese entsprachen nicht dem Bild, das von führenden Werken - insbesondere der Musikgeschichte - vermittelt wurde, die Wertungskriterien setzten und in eigentümlicher Weise um immer dieselben Namen kreisten. Diese Literatur war nationalistischen Auffassungen verpflichtet, setzte Maßstäbe zur Beurteilung der Kulturangemessenheit von Komponisten und Werken, brachte z.T. explizit und in einschüchternder Weise kritische Verurteilungen zum Ausdruck und gab sich als Stimme der Moderne aus, obwohl sie auf Entwicklungen basierte, deren Anfänge bereits Jahrzehnte zurücklagen.

Diese Strömung des Denkens galt noch als richtungsweisend in einflussreichen Kreisen der Volkskunde und einer Intellektualität, die das Kultur- und Konzertleben maßgeblich prägten und - insbesondere in São Paulo - einen eigentümlichen Kult um bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten zelebrierten, z.B. um die Woche der Modernen Kunst von 1922, Mário de Andrade oder Heitor Villa-Lobos. Einige ihrer Vertreter, die vielfach eine Ausbildung in Europa, vornehmlich in Frankreich, erhalten hatten, bildeten mit ihren Schülern private Zirkel des Musiklebens, die ein hohes gesellschaftliches Ansehen genossen.

Zugleich war festzustellen, dass es eine Sphäre des Musiklebens gab, die fest in der Hand von Musikern und Musiklehrern lag, deren führende Persönlichkeiten zu denjenigen gehörten, die meist aus italienischen Immigrantenkreisen stammend in den 30er und 40er Jahren Ziele nationalistischer Anfeindungen gewesen waren. Diese hing mit dem straff strukturierten System der Konservatorien zusammen, die ein Netz bildeten, das die Stadt und den Staat umfasste und einem staatlichen Organ für Kunstinstitutionen unterstellt war. In diesen Schulen und Hochschulen, die als einzige das Recht zur Erteilung von Lehrbefugnissen besaßen, wurden auch Fächer verpflichtend angeboten, die die Kulturstudien betrafen, u.a. Volkskunde und Musikgeschichte. Diese Disziplinen waren dementsprechend in einer Sphäre des Musiklebens angesiedelt, die andere Voraussetzungen als diejenigen der Zirkel aufwiesen, die sozial höheres Ansehen besaßen und als intellektuell federführend galten. Gegenseitige Ressentiments waren auf beiden Seiten spürbar.

Es waren aber auch anderen Sphären des Musiklebens festzustellen, u.a. die des Blasmusikwesens, das ebenfalls eine netzartige Strukturierung erkennen ließ. Neben den Militärkapellen bestimmten zahlreiche zivile Musikvereine das Musikleben von Stadtvierteln, Firmen, Institutionen und Körperschaften. Trotz Beziehungen zu den Konservatorien, an denen einige Musiker ihre Ausbildung erhalten hatten oder dort unterrichteten, gehörten die Blaskapellen zu einem eigenen Geflecht von Verbindungen, das auch periphere Stadtteile, eingemeindete Städte und Städte des Hinterlandes einbezog. Innerhalb dieses Netzes aggierten die Musiker und erfolgten der Austausch von Noten sowie die Verbreitung neuer Anregungen. Die Vereine verfügten über eine jeweils eigene Geschichte, pflegten Traditionen und ein eigenes Selbstverständnis und zeichneten sich vielfach durch politische Parteibindungen aus.

P. Ramos Machado, Chroniken der A.B.E.
Einige der Dirigenten und Instrumentalisten gehörten früher zu Kirchenorchestern, die im Rahmen der kirchenmusikalischen Restauration seit Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich zugunsten der Orgel und der a-capella-Chormusik abgeschafft wurden. Sie wurden nur noch sporadisch zu traditionsgebundenen Kirchenfesten von Bruderschaften und entlegenen Ortschaften eingeladen, die entgegen den kirchlichen Preskriptionen noch am alten instrumentalbegleiteten Repertoire festhielten. Diese Musiker waren somit gleichsam Überlebende einer versunkenen Musikwelt, die früher das Musikleben Brasiliens geprägt hatte. Sie waren Träger einer mündlich überlieferten Musikgeschichte und konnten auch Auskunft geben über Traditionen, die ehemals in den Gesamtrahmen des kirchlich geprägten Kulturlebens eingefügt waren. Nur durch sie war es möglich, Erscheinungen der Volkskultur, die z.T. weiterhin lebendig geblieben waren, in ihren Beziehungen zum gesamten Kulturgefüge zu erkennen.

Zu den Residuen dieser versunkenen Welt zählte der Veronika-Gesang, der im Rahmen der Prozessionen der Karwoche praktiziert wurde. Diese Tradition wurde zu einem wichtigen Ansatz der Überlegungen. Andrelino Vieira, Kapellmeister und Komponist, der in der alten Ortschaft Santana do Parnaíba wirkte und besondere Kontakte zum traditionsreichen Musikleben der Stadt São João del Rey in Minas Gerais pflegte, hob die Bedeutung des Veronika-Gesanges als eine Erscheinung des Musiklebens hervor, die meist anonym zwischen den Sphären der Kunst- und der Volksmusik vermittelte. Auch hier bestand ein Netz von Verbindungen zwischen den Sängerinnen der verschiedenen Kirchen und Städte, die zuweilen nur als Veronika-Darstellerinnen auftraten. Im Rahmen dieses Netzes konnten die Verbreitung bestimmter Melodien festgestellt und Veränderungen untersucht werden. Andrelino Vieira klagte vielfach über die Ungerechtigkeit, die den Kapellmeistern durch die kirchenmusikalische Reform widerfahren war, welche zu einer Zerstörung des strukturierten Musiklebens der Städte geführt hatte. Diese alte Welt wurde ebenfalls von der Musikhistoriographie ignoriert, die erst zur Zeit der kirchenmusikalischen Reform entstand und nationalistischen Bestrebungen verpflichtet war.

Alberto Salles, Chroniken der A.B.E.
Bei Besprechungen im Jahre 1966 mit Alberto Sales, dem Vertreter des für die Konservatorien zuständigen Amtes, wurde die Existenz verschiedener Netzwerke angesprochen, die nicht nur die Praxis, sondern auch das Bild geschichtlicher Verläufe und deren Wertung bestimmten. Die Sichtweisen wurden u.a. durch die Vermittlung von Lehrern auf Schüler, durch Nachahmung und durch soziale Kommunikation bei gemeinsamer Partizipation am Musikleben weitergetragen. Es gab nicht nur durch Publikationen, von Verlagen und Institutionen geförderte Historiographien und Kulturstudien, sondern auch eine nicht institutionalisierte, mündlich überlieferte Geschichte und Volkskunde. In allen Fällen waren diese Netze selbst Kulturerscheinungen und sollten aus einer übergeordneten Warte betrachtet werden. Eine besondere kritische Aufmerksamkeit sollte denjenigen Netzwerke entgegengebracht werden, deren Mitglieder sich als Vertreter einer führenden Intellektualität verstanden, eine Politik der Durchsetzung eigener Schüler und Anhänger betrieben, die Repräsentation bestimmter Fachbereiche für sich beanspruchten und vielfach rücksichtlos nach Macht strebten. Besonders Vertreter dieser Netzwerke sollten nicht als Autoritäten, sondern als Erscheinungen eines bestimmten Kontextes und somit nicht als Subjekte, sondern als Objekte einer Kulturforschung angesehen werden.

Antonio Alexandre Bispo

Fotos: Dr. Paulo Ramos Machado und Alberto Salles





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