Erneuerung der Kulturforschung und -praxis: Studien von Kulturprozessen. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Erneuerung der Kulturforschung und -praxis: Studien von Kulturprozessen
Sitzungen zur Gründung der Organisation für Studien von Kulturprozessen ("Neue Diffusion"), São Paulo 1968

Emblem der Gesellschaft Neue Diffusion
Im Jahre 1968 erfolgte die amtliche Konstituierung der Gesellschaft, die die heutige Organisation Brasil-Europa für Studien von Kulturprozessen bildet. Ihrer Gründung ging eine langjährige Entwicklung von Gesprächsrunden und Begegnungen in mehreren Institutionen voraus. Sie entsprach einem vor allem in der Jugend und in kritischen Kreisen weit verbreiteten Bestreben nach Überwindung konventioneller Denkweisen sowie nach Erneuerung akademischer Strukturen und des Kultur-, insbesondere des Musiklebens.

Seit 1966 stand das Problem des Verhältnisses zwischen Geschichte und empirischer Kulturforschung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines Kreises von Dozenten, Studenten, Musikern und Künstlern verschiedener Disziplinen und Sparten des Kulturlebens (siehe Bericht). Bei dieser im Musikbereich initiierten Debatte ging es um das Historische in der empirischen Forschung, die Verwendung von Ergebnissen der empirischen Forschung in der Historiographie, die Feldforschung bei der Untersuchung von musikgeschichtlichen Traditionen in der Sphäre der Kunstmusik und andere Fragestellungen, die nicht nur eine enge Zusammenarbeit der verschiedener Fachbereiche, sondern eine Änderung von Perspektiven als notwendig erscheinen ließen.

Die Überwindung von Grenzen der historischen und empirischen Kulturstudien korrelierte mit dem Problem des Denkens in Kultursphären. So widmete sich beispielswiese in überkommener Weise die Musikgeschichte der Sphäre der Kunstmusik, die (musikalische) Volkskunde dem komplex definierbaren Bereich der Volksmusik, der zu unterscheiden sei von der Popularmusik, ein damals erst am Anfang der Entwicklung stehendes und noch nicht institutionalisiertes Studienfeld, das mit besonderer Evidenz die notwendige Interaktion historischer und empirischer Vorgehensweise erkennen ließ und die Berücksichtigung von theoretischen Ansätzen der damals neuen Kommunikationstheorie erforderte.

Diese Kultursphären hatten jedoch durchlässige Trennwände, da u.a. die Volkskunde die Permanenz von Ausdrucksweisen der Kunstmusik und urbaner Gesellschaftstänze früherer Zeit in Volkstraditionen konstatierte und gar von einer Bewegung des Absinkens von Kulturgütern sprach, die Musikgeschichte die Aufnahme von volksmusikalischen Elementen in der Kunstmusik in verschiedenen Epochen und Kontexten untersuchte und dies auch im Sinne nationalistischer Orientierung aufwertete, und die Popularmusik sowohl u.a. Formen, Ausdrucksweisen und Instrumente der Volksmusik als auch - z.B. hinsichtlich Arrangement und Instrumentation - Techniken der Kunstmusik verwendete, die musikgeschichtlich bestimmbar waren.

Eröffnungsprogramm der Gesellschaft Neue Diffusion
Die Beachtung dieser Strömungen zwischen den durchlässigen Wänden der Kultursphären, deren Bedeutung immer stärker ins Bewusstsein trat, erweckte Assoziationen zu der aus den Naturwissenschaften bekannten Osmose. Das Streben, die Vorgänge zwischen den Kultursphären präziser zu analysieren, führte zu einer eingehenderen Betrachtung der aufgespürten Analogie, was die Kooperation mit Chemikern und Physikern erforderte. Es wurde beispielsweise diskutiert, ob auch in der Kulturbetrachtung eine Unterscheidung von Endoosmose und Exoosmose möglich ist und ob die Durchlässigkeit von Membranen auf den kulturellen Bereich übertragen werden könnte, da es Künstler, Musiker und Intellektuelle gab, die zwischen den Kultursphären vermittelnd standen.

Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse zwischen den Kultursphären - Kunst- und Volksmusik, Volks- und Popularmusik u.a. - legte es nahe, in Analogie zur naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit die neue Organisation, die sich für die Erneuerung der Kulturstudien einsetzte, mit dem Terminus Diffusion zu bezeichnen. Dieser Begriff stand somit in einem ganz anderen Zusammenhang als derjenige des sogenannten Diffusionismus in der Ethnologie und in den Sozialwissenschaften.

Die Ausrichtigung der Aufmerksamkeit auf Prozesse bedeutete zunächst auch nicht die Überwindung der Differenzierung des Kulturganzen in Sphären bzw. die Kategorisierung der Untersuchungsgegenstände der einzelnen Disziplinen. Diese bestanden - auch aus pragmatischen Gründen - fort, sollten jedoch auf den Weg der Veränderung gebracht werden, indem aus den jeweiligen disziplinären Standpunkten der Blick nicht auf eher Statisches in geschlossenen Denkräumen ("compartimentos fechados"), sondern auf dynamische Vorgänge, gleichsam intra-kulturell, gerichtet werden sollte.

Die Reflexionen brachten jedoch ins Bewusstsein, dass die Differenzierung in "höhere" Bildungskultur - z.B. Kunstmusik ("música erudita") -, in Volks- und in Popularkultur vor allem die Denkweise derjenigen Disziplinen prägte, die auf die eigene Kultur ausgerichtet waren, vornehmlich der Volkskunde. Aus der Sicht der Ethnologie, die sich dem (in Bezug auf die Kultur des Betrachters) Fremden widmet, musste das Denkmodell ausdifferenziert bzw. modifiziert werden. Kulturen von Migranten mussten beispielsweise hinsichtlich ihrer eigenen Veränderungen bzw. Verharrungen, in ihrer Beziehung untereinander und in ihrer Einwirkung auf die Kunst-, Volks- und Popularmusik inter-kulturell untersucht werden.

Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse des Kulturwandels blickte vor allem in Studien indigener Kulturen auf eine lange Tradition zurück; zur damaligen Zeit waren vor allem Untersuchungen unter dem Begriff der "Akkulturation" besonders aktuell. Hierbei gewannen vor allem Probleme der Begegnung und der Interaktion von eher als geschlossen geltenden Stammeskulturen mit einer expandierenden nationalen Gesellschaft an Bedeutung. Die Stellung des Forschers, seine eigene kulturelle Einbettung und seine fachlich bedingten Sichtweisen mussten demnach berücksichtigt werden. Er war im Sinne des in Analogie zur Osmose verwendeten Denkmodells auch von Diffusionsvorgängen betroffen und wurde zum Agenten neuer Prozesse.

Der Kreis, der sich damals konstituierte, konnte sich demnach nur im Sinne einer Bewegung zur Erneuerung verstehen, d.h. als eine im Musikbereich entstandene Gesellschaft "Neuer Diffusion". Zu den von ihren Statuten festgelegten Zielen zählte die Vorgabe, eine Studien- und Forschungsgesellschaft zu sein, die reflektierend die Kulturprozesse untersucht und dadurch zu einer bewussten Wahrnehmung von und einem überlegten Umgang mit Kulturprozessen beiträgt. Sie sollte versuchen, eine Betrachtungsweise durchzusetzen und zu propagieren, die zugleich dynamisch und kritisch ist.

Antonio Alexandre Bispo





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