Prozesse der Kulturdiffusion im Kontext Brasilien/Deutschland. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Studien von Prozessen der Kulturdiffusion im Kontext Brasilien/Deutschland
Sitzungen und Konzert am Studienzentrum der Gesellschaft Neue Diffusion (1971)

Die 1968 in São Paulo gegründete Gesellschaft, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, hatte die Erneuerung der Kulturstudien und die Förderung einer kulturwissenschaftlich reflektierten Musikpraxis zum Ziel. Um dies zu erreichen, vertrat sie eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Kulturprozesse. Die Beachtung von Vorgängen, die zwischen Kultursphären inter- und transkulturell verliefen, sollte Fächergrenzen überschreiten und damit sowohl interdisziplinäre Zusammenarbeit als auch die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft fördern.

Zu den zu beobachtenden Prozessen gehörte die Kulturdiffusion, die internationale Beziehungen betraf. Kulturämter, Konzertgesellschaften, Botschaften, Konsulate sowie Kulturinstitute verschiedener Länder organisierten Veranstaltungen, die bi-laterale Beziehungen thematisierten. Sie dienten der Informationsvermittlung über Länder, der Völkerverständigung und dem Kulturaustausch. Viele von ihnen hatten einen innovativen Charakter. Sie vermittelten vorzugsweise Einblicke in neue Tendenzen in Kultur, Kunst und Musik der betreffenden Länder. Von ihnen gingen Anregungen aus, die Kreise des Kultur- und Musiklebens besonders beeinflussten und Entwicklungen in Gang brachten, die Erneuerungscharakter besaßen.

Bei den Bestrebungen, Kulturprozesse als Betrachtungsgegenstand zur Erneuerung der Kulturstudien in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, musste nicht nur das, was angeboten und propagiert wurde, sowie dessen Auswirkungen beachtet werden, sondern seine Vorbedingungen, d.h. die Konzepte, die den Initiativen der Kulturdiffusion zugrunde lagen. Es ging somit nicht nur um eine Auseinandersetzung mit intellektuellen und künstlerischen Strömungen des Auslandes, so wie sie vermittelt wurden, sondern um eine Eruierung der Gründe der Institutionen und Auslandsvertretungen für die Hervorhebung und Verbreitung bestimmter Aspekte ihres Kultur- und Musiklebens. Durch diese Ausrichtung der Aufmerksamkeit sollte ein Zugang gesucht werden zu kulturpolitischen Auffassungen der betreffenden Institutionen bzw. Länder, die ein bestimmtes Bild von sich vermitteln wollten. Dadurch konnte eine gegenwartsbezogene Betrachtung der Kultur von solchen Ländern erfolgen, die durch ihre Auslandsvertretungen und Kulturinstitute der Kultur eine herausragende Bedeutung beimaßen.

Es ging darum, aus der passiven Rolle des Empfängers von Anregungen zu einer aktiven des Beobachters der Konzepte und Aktivitäten der Vermittler zum Zwecke der Eruierung ihrer Beweggründe und Voraussetzungen zu gelangen. Eine Kulturforschung in internationalen Beziehungen setzte somit an bei der Beobachtung der Tätigkeit von Ministerien, Kultursekretariaten, Konzertgesellschaften sowie von Organisationen bilateraler Beziehungen sowie von Kulturinstituten wie Alliance Française, Istituto Italiano, Goethe-Institut u.a. Dadurch sollten Voraussetzungen geschaffen werden, um mit Experten im Ausland zusammenzuarbeiten, die in reziproker Weise die Kulturrepräsentation im Ausland und dadurch auch die Kulturentwicklungen in Brasilien beobachteten.

Unter den Ländervertretungen und ihnen nahe stehenden Instituten, die eine besonders innovative Kulturarbeit entwickelten, ragte die der Bundesrepublik Deutschland hervor. Die deutschen Kultur- und vor allem Musikprogramme, die angeboten wurden, zählten zu den qualitativ herausragendsten und inhaltlich innovativsten. Die Absicht, den Kulturaustausch und die Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien zu fördern, wurden explizit zum Ausdruck gebracht. Die von vielen der Veranstaltungen ausgehenden Impulse hatten nachhaltige Auswirkungen im Repertoire, im Schaffensprozess, im Unterricht und bei der Entwicklung des Denkens in vielen Kulturbereichen.

Die Auseinandersetzung mit den vermittelten Impulsen als Hinweise auf Konzepte der Diffusionspolitik durch Kulturinstitute und dadurch zur Betrachtung der Kultursituation in der Bundesrepublik selbst wurde in einer Sitzungsreihe am Studienzentrum der Gesellschaft Neue Diffusion besprochen und anschließend an der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos zur Diskussion gestellt.

Die Erörterungen gingen von der Feststellung aus, dass insbesondere neue, experimentelle und progressive Tendenzen in verschiedenen Sparten der Kultur und vor allem der Musik die Diffusionsbestrebungen im Kontext Deutschland/Brasilien prägten. Wenn auch diese innovative, zukunftsweisende Ausrichtung dankenswert aufzunehmen war, konnte sie als Hinweis auf eine kulturpolitische Bestrebung gedeutet werden, das Bild eines aufgeschlossenen und modernen Landes zu vermitteln. Um einen umfassenderen Einblick in die Kulturzustände in Deutschland zu gewinnen, müssten jedoch auch Sparten des Kultur- und Musiklebens beachtet werden, die in dieser Diffusionsarbeit keine Berücksichtigung fanden. Sie nur ansatzweise zu eruieren, erforderte Forschungen und Studien, die nur durch persönliche Beziehungen durchzuführen waren. Durch den Gedankenaustausch mit Deutschbrasilianern, die bei dieser Aufgabe hilfreich sein konnten, wurde ein äußerst vielschichtiges, aber auch problemreiches Bild gewonnen.

Wegen der politischen Ereignisse einer noch nicht fernen Vergangenheit und des Ausgangs des Zweiten Weltkrieges wurden Gestalten, Werke, Institutionen, Tendenzen und Strömungen des Denkens über Kultur und Kunst vertilgt, verdrängt oder verschwiegen. Für deutsch-brasilianische Kreise, die ältere Namen und Werke als Referenzen hatten, entstand eine eigentümliche Situation, die von Diskontinuitäten und Inkompatibilitäten geprägt war. Die Diffusionsarbeit der Gegenwart erfolgte jedoch in Brasilien nicht von Null an, sondern geschah in einem Land, das auf eine alte Geschichte von Kulturbeziehungen zurückblickte und wichtige Regionen aufwies, die von deutscher Kolonisation geprägt waren. Eine differenzierte Betrachtung der Kultursituation in Deutschland sollte somit mit eine Art Bestandsaufnahme der Kultursituation in deutsch geprägten Kreisen oder in Bevölkerungsschichten deutscher Herkunft einhergehen. Hierfür sollte eine für 1973 angesetze Forschungsreise zu Regionen deutscher Immigration in Staaten Südbrasiliens dienen.

Bei der Sitzung und dem Konzert am 28. August 1971 wurden Kompositionen von Herbert Baumann, Henk Badings, Hans Georg Burghardt, Julius Weismann und Kurt Hessenberg besprochen und aufgeführt.

Antonio Alexandre Bispo





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