Kulturwissenschaftlicher Ansatz zur ästhetischen Diskussion: Kitsch. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Kulturwissenschaftlicher Ansatz zur ästhetischen Diskussion: Kitsch
Fakultät für Architektur und Urbanistik der Universität São Paulo, 1971

Die Bewegung für die Erneuerung der Kulturstudien, die 1968 zur Konstituierung einer Gesellschaft für die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft führte, plädierte für eine stärkere Ausrichtung der Aufmerksamkeit in den verschiedenen Disziplinen auf Prozesshaftes. Dadurch konnte allmählich ein reflektierter und relativierender Umgang mit Kategorisierungen von Kultursphären einsetzen, die die einzelnen Disziplinen bestimmten. Prozesse, die zwischen den Trennwänden der postulierten Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur verliefen, sollten stärker beobachtet und untersucht werden.

Bei den Überlegungen wurde u.a. das Problem des Kitsches zur Sprache gebracht. Es gab beispielsweise volkstümliche Erscheinungen der Popularmusik, die sich Elementen der Volksmusik bedienten und von den Volkskundlern verächtlich als "música popularesca" bezeichnet wurden, Erscheinungen der Popularmusik, die Elemente der Kunstmusik aufwiesen, z.B. das opernhaften Singen, in Massenproduktion erworbene Artefakte bei traditionsgebundenen Spielen und Tänzen der Volkskultur, ein umfangreiches sentimentales und triviales Musikrepertoire in der Kunstmusik etc.  Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf solche Kulturerscheinungen, die zwischen den Kultursphären der Kunst-, Volks- und Popularmusik standen, verlangte eine Auseinandersetzung mit Wertungen und mit der Begriffsbestimmung dessen, was als Kitsch bezeichnet wird.

Melodia da Fé, Erotides de Campos
Bei der Besprechung der verschiedenen Ansätze zur Definition von Kitsch traten Unterschiede je nach disziplinärem Blickwinkel zutage. Eine besondere Berücksichtigung verdienten Auffassungen, die eine Diskrepanz zwischen Form umd Inhalt beim Kitsch konstatierten, seinen appelativen Charakter und vor allem eine ihm zugrunde liegende Verlogenheit. Damit ergab sich aber ein ethisches Problem, das besonders gravierend erschien, da Kitsch in ausgeprägter Form in religiöser Kunst und Musik festzustellen war, wo Lüge und Verlogenheit in Widerspruch standen zu der Verpflichtung der Religion zu Wahrheit und Wahrhaftem.

Je weiter die Überlegungen gediehen, desto übermächtiger schien Kitsch weite Bereiche des Kulturlebens zu beherrschen. Neben der weit verbreiteten Trivialliteratur und -musik war er aufspüren in Rundfunk- und Fernsehproduktionen, in der Architektur, im Stadtbild, im Design, in Kunst und Handwerk, sogar in der Denkweise und in der Konzeption mancher Fächer. So erschien z.B. selbst eine nationalistisch geprägte Volkskunde als kitschig. Manche Regionen, vor allem diejenigen der mitteleuropäischen Einwanderung, wiesen mit ihren architektonischen Nachahmungen durch die mangelnde Originalität ihrer Städte und landschaftlichen Gestaltung eine tiefgreifende kitschige Prägung auf. Wenn Kitsch Lüge und Verlogenheit erkennen ließ, dann war Brasilien - und wohl auch Lateinamerika im Allgemeinen - mit gravierenden ethisch-ästhetischen Problemen behaftet.

Durch die Intensität des Vorkommens von Kitschigem in der religiösen Sphäre wurde erwogen, die Ursprünge dieser ethisch-ästhetischen Probleme müssten im Prozess der Kolonialisierung und Missionierung liegen. Methoden der Anziehung, der Propaganda und der Kulturumformung, die vor allem von den Jesuiten eingesetzt wurden, könnten hier eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Frage nach einer intrinsischen Tendenz zum Kitsch in der Kultur hing somit mit den Problemen des Kolonialismus und des Barock zusammen, die kurz zuvor bei Sitzungen im Rahmen des von der Gesellschaft für die Erneuerung der Kulturstudien veranstalteten "Festivals Barocker Musik" besprochen worden waren (siehe Bericht).

Programm des Madrigal Faunos da Pauta
Allerdings führten die Überlegungen zu der Einsicht, dass die wertende Kennzeichnung eines Artefakts oder einer Kulturerscheinung als Kitsch eine Kategorisierung des Untersuchungsobjekts darstellt und somit den Bestrebungen nicht entsprach, die die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zum Ziel hatten. Das als gravierend erkannte Kulturproblem sollte nicht hinsichtlich des Objekts, sondern der Haltung des Wahrnehmenden gegenüber dem Objekt behandelt werden. Die Kulturforschung sollte ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Art und Weise richten, wie die Menschen bzw. Gruppen gegenüber der Faszination von Machwerken reagierten, die angenommen bzw. im materiellen oder übertragenen Sinne erworben werden wollten.

Da das Appelative als ein bedeutendes Charakteristikum des Kitsch erschien, ging es darum, zu beobachten, inwieweit Individuen, Kreise der Gesellschaft oder selbst Epochen der Geschichte dieser Anziehung verfallen oder dagegen immun waren. Da der Kitsch real oder in übertragenem Sinn gekauft werden will, hat er trotz allem Anschein des Niedlichen, Süßen, aber auch des Mitleid oder Empörung Erheischenden, ein innewohnendes Anliegen, nämlich den Wunsch, konsumiert zu werden. Der Appelation nicht zu verfallen bedeutete, dieses Anliegen nicht ernstzunehmen. Es sollte somit beobachtet werden, ob die Wahrnehmenden diese Artefakte ernstnehmen oder sich über sie lustig machen.

Der Verzicht, den Kitsch gemäß seines Anliegens zu konsumieren, bedeutete nicht, ihn zu bekämpfen, denn dies würde zum Ausdruck bringen, dass man ihn ernstnahm. Mit ihm in spielerischer Weise umzugehen, würde eher eine Freiheit gegenüber seiner Anziehung bedeuten und zur Neutralisierung, Demaskierung oder Demontage seiner Macht beitragen. Die Aufmerksamkeit des Beobachters sollte sich somit auf das Spielerische, das Ludische, das Lustige im Umgang mit den anziehenden Ausdrucksweisen des Lügenhaften richten.

Dies würde auch nichts anderes bedeuten, als nach dem Mechanismus zu handeln, der in den Spielen der Volkstraditionen selbst zu beobachten ist, vor allem im Karneval, wenn Figuren des Boshaften in der Menschennatur in Form grotesker Darstellungen entmachtet werden und in lustvoller Weise der vergnüglichen Freude dienen.

Um diese Mechanismen zu erproben und die gewonnene Sichtweise zu internalisieren, wurde ein "Madrigal und Opernchor" von Studenten der Ästhetik und der Kunstgeschichte der Fakultät für Architektur und Städtebau der Universität São Paulos gegründet, dessen Namen bereits seine lustvolle Doppelbödigkeit zum Ausdruck brachte und der sich dem Kitsch in der Musik widmete. Für die Programme, die Inszenierungen und Happenings vorsahen, mussten Notenmaterialien gesucht, gesichtet und gesammelt werden. Dieses Vorhaben, das vom Zentrum der Gesellschaft für die Erneuerung der Kulturstudien organisiert wurde, legte die Grundlagen zu einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Erforschung der Salonmusik Brasiliens des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Antonio Alexandre Bispo





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