Aktualisierung der Volkskunde und transdisziplinöre Kulturwissenschaft. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Aktualisierung des Forschungsgegenstandes der Volkskunde und transdisziplinäre Kulturwissenschaft
Sitzung im Konferenzsaal der Zeitung "O Estado de São Paulo" (1972)

Die Bestrebungen zur Erneuerung der Volkskunde in Kreisen von an theoretischen und methodologischen Fragen interessie
Folclore. Suplemento Literário O Estado de São Paulo 1972
rten Forschern, Dozenten und Studenten São Paulos am Ende der sechziger Jahren gingen von verschiedenen Ansätzen aus, die jedoch nicht ganz miteinander unvereinbar erschienen.

Im Umkreis des Museums der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde bemühte man sich um 1970, die Kriterien der Anonymität, Traditionsgebundenheit und kollektiven Akzeptanz, die seit Jahrzenten für die Definition des Gegenstandes der Volkskunde angeführt wurden, zu relativieren. Als Charakteristikum für die Bestimmung dessen, was ein Phänomen der Volkskultur - im Unterschied zur Bildungs- und Popularkultur - war, wurde fortan die Tatsache gesehen, dass es nicht Ergebnis eines planmäßiges, bewussten und systematischen Erlernens war, d.h. dass es spontan zustande kam. Diese "spontane Kultur" ("cultura espontânea") war zwar zu unterscheiden von einer höheren Bildungskultur ("cultura erudita"), die Resultat eines institutionalisiertes Erlernen war, und auch von der Popularkultur, die durch die Wirkung der Medien von Interessengruppen geleitet wurde, konnte jedoch auch in diesen vorkommen, sodass eine Erscheinung der Kultur "folk" auch in der Sphäre gehobener Bildungskultur oder in der Popularkultur zu finden und zu untersuchen war. Damit eröffnete sich das Untersuchungsfeld der Volkskundler, die Folklore in allen Kulturbereichen aufspüren und studieren konnten.

Im Umkreis der Bewegung, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft führte, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, gingen die Bestrebungen primär von den Verhältnissen der historischen zur empirischen Kulturforschung aus. Dabei wurden die Probleme diskutiert, die aus eine Aufteilung des Untersuchungsobjekts nach Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur resultierten und die die jeweiligen Fachbereiche der Kulturstudien definierten. Die Debatte führte zur Einsicht, dass die Orientierung der Aufmerksamkeit auf Prozesse eine allmähliche Veränderung der Kulturbetrachtung und eine graduelle Überwindung von Grenzen der verschiedenen Disziplinen ermöglichen könnte. Vor allem die Ausrichtung des Blicks auf "Dazwischen-Vorgänge", d.h. auf Prozesse zwischen den Kultursphären, die zwischen ihnen vermittelten oder ihre Trennwände durchbrachen, sollten den Weg für eine transdisziplinäre Kulturwissenschaft bereiten.

Zwischen beiden Positionen herrschte trotz Unterschieden auch Nähe, sodass es die Überzeugung gab, durch Zusammenarbeit Klarheit zu gewinnen im Dienst einer allerseits empfundenen Notwendigkeit der Erneuerung der Forschung. Diese Nähe lag darin begründet, dass auch beim vom Vorstand der Gesellschaft für Volkskunde vertretenen Modell die Aufmerksamkeit nicht auf einen bestimmten Kulturbereich eingrenzend reduziert war, sondern auf einen Vorgang gerichtet, nämlich den des Zustandekommens einer "spontanen Kultur", und auf ihr Vorkommen in allen Kulturbereichen. Der Unterschied zwischen den Positionen lag vor allem darin, dass die Volkskundler trotz des innovativen Ansatzes letztlich weiterhin von einer Differenzierung von Kultursphären ausgingen, sodass sie in ihren Auffassungen noch von einer Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes geprägt waren.

Der Ansatz der 1968 konstituierten Organisation zielte dagegen auf die Überwindung dieser Kategorisierung und setzte den Schwerpunkt der Überlegungen auf die Forschung selbst. Diese sollte auf einen übergeordneten Standpunkt gebracht werden, aus dem heraus die Unterscheidung von Kultursphären selbst als zeitbedingte Kulturerscheinung anzusehen war. Nicht eine bestimmte - spontane oder geleitete - Kultursphäre sollte letztlich Ziel der Bemühungen sein, sondern die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft.

Die Position der Volkskundler zielte auf eine Leitstellung der Volkskultur bzw. der "spontanen" Kultur innerhalb des disziplinären Fächerkomplexes und letztlich auf die Wahrnehmung dessen, was "folk" ausmachte. Eine ähnliche Bestrebung zur Vormachtstellung wurde der Bildungskultur und deren Vertretern angelastet. Es gab aber auch seitens der Popularkultur Tendenzen, sie als Leitkultur und ihre Erforschung als Leitfach im Fächerkatalog anzusehen. Eine transdisziplinäre Kulturwissenschaft stellte jedoch weder eine neue Erscheinungsweise der Volkskunde noch der Popularkulturforschung dar.

Um diese Debatte der Öffentlichkeit bekannt zu machen und einen möglichst breiten Interessentenkreis einzubeziehen, organisierte die Zeitung "O Estado de São Paulo" einen Runden Tisch in seinen Räumen, an dem Vertreter der verschiedenen Positionen ihre Auffassungen, Konzepte und Verfahrensweisen anhand von Beispielen aus der Forschungsarbeit erläutern konnten. Das Thema ging von einem Anliegen aus der Volkskunde aus: ihr Untersuchungsobjekt betraf nicht nur vergangene oder im Verschwinden begriffene oder dazu bestimmte Kulturerscheinungen, sondern etwas Lebendiges, das selbst und vor allem in der Kultur des Alltags aufzuspüren war. Anders als die Folklore-Forschung, die ihre Aktualisierung - und ihr Existenzrecht - durch eine neue Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes suchte, wiesen die Vertreter der 1968 gegründeten Organisation der Erneuerung der Kulturstudien darauf hin, dass es auch andere Kulturprozesse gab, die nicht nur spontan verliefen. Eine anzustrebende transdisziplinäre Kulturwissenschaft sollte nicht aus der Bestimmung einer bestimmten Sparte des Kulturganzen ausgehen.

Teilnehmer: Rossini Tavares de Lima, Antonio Alexandre Bispo, Julieta de Andrade, Hélio Damante, Silvia Gasparini, Augusto Mario Ferreira, Thais de Almeida Dias, Wilson Rodrigues de Moraes, Jacob Kopel Rissin, Mario Tanaka, Marcel Jules Thieblot, Maria do Carmo Vendramini, Enio Squeff (Organisator)





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