Erforschung der Folias aus einem kulturwissenschaftlichen Ansatz. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Die Erforschung der Folias aus einem kulturwissenschaftlichen Ansatz
Forschungsprogramm an der Südküste von Bahia, 1972

Die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien, die aus der Diskussion um das Verhältnis zwischen historischer und empirischer Forschung hervorging und 1968 zur Gründung der Gesellschaft führte, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, strebt nach einer Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes.

Dadurch sollte die Orientierung des Studiums auf Sphären der Kunst-, Volks- und Popularkultur allmählich überwunden, die interdisziplinäre Arbeit gefördert und die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturforschung eingeleitet werden.

Dieses Anliegen bedingte Veränderungen in der Konzeption und in der Praxis der volkskundlichen Forschung. Die neue Perspektive wurde zu verschiedenen Anlässen in der Feldforschung erprobt.

Eine der Fragestellungen betraf die Beziehung zwischen traditionsgebundenen Kulturerscheinungen und Prozessen räumlicher Natur, der Landeserschließung, Besiedlung und Urbanisierung. Diese Fragen urbanologischen Charakters wurden vielfach in Kreisen der Architektur und Stadtplanung thematisiert, die dadurch ins Bewusstsein brachten, dass eine scharfe Trennung zwischen ruralen und urbanen Regionen nicht zu ziehen ist. Damit wurde ein Verständnis von Volkskultur als ländliche bzw. Bauernkultur, das bereits von einigen Forschern in Frage gestellt worden war, auch von Theoretikern aus dem Bereich von Architektur und Stadtbau kritisiert.

Folia de Reis, südliche Küste Bahias
Der Ansatz zur Vertiefung der Überlegungen wurde in den traditionsgebundenen Praktiken gesehen, die sich durch einen eindeutigen Bezug zum Räumlichen auszeichneten. Dazu gehörten Gruppen, die zum Anlass religiöser Feste umhergehen und mit Musik und Instrumentalspiel Häuser besuchen, um Gaben zu sammeln. Sie markieren das Territorium einer Gemeinde, wofür sie zuweilen beträchtliche Entfernungen auf Wegen und Flüssen bewältigen müssen. Sie können als Folias bezeichnet werden, womit ihr ludischer, nicht-sakraler Charakter zum Ausdruck kommt, oder mit Begriffen, die sie als Gruppenformationen kennzeichnen, wie z.B. Kompanie, Truppe oder gar Bande.

Zu den wichtigsten Anlässen für das Umherziehen zählen die Feste der Epiphanie (Folias de Reis), Pfingsten (Folias do Espírito Santo) und Feste von besonders verehrten Heiligen bzw. Patronatsfeste. Bereits europäische Reisende des 19. Jahrhunderts haben die Bedeutung solcher Praktiken zur Verstärkung der Bindung christlicher Indianer an die Gemeinden in abgelegenen Regionen festgestellt. Indem sie von diesen fahrenden Gruppen besucht wurden, wurden die halb integrierten Indianer im weiten Raum der Siedlungen und Städte miteinbezogen und in ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Raum verstärkt. Die Änderung der räumlichen Anordnung indigener Dörfer zugunsten netzartiger Urbanisierungsmuster war eine zu verschiedenen Zeiten der Geschichte übliche Maßnahme von Missionaren und Siedlern, um die Kulturtransformation zu beschleunigen und Bindungen zu verstärken. Die Zerstörung von geschlossener, meist zentrierter räumlicher Konfiguration der Dörfer, die mit einem Weltbild verbunden war, das in Tänzen und anderen Kulturpraktiken zum Ausdruck kam, war ein wichtiger Schritt im Prozess der Integration der indigenen Völker in die westlich geprägte Gesellschaft. Ein eher geschlossener Raum wurde durch die Anordnung der Häuser entlang neuer Wege prinzipiell in ein Netzwerk einbezogen, das dem expansiven Charakter der sich prozessartig expandierenden westlichen Gesellschaft entsprach. Diese besaß keine Städte mehr, die - wie im Mittelalter - mit Mauern umgeben waren, die eine deutliche Trennung zwischen städtischen und ländlichen Zonen ermöglichten, wies jedoch ein unsichtbares räumliches Gliederungssystem auf, das aus den religiös bestimmten Gemeinden bestand. Dieser Raum sozio-kultureller Zugehörigkeit wurde durch die umherziehenden Gruppen aktualisiert und gefestigt.

Folia de Reis, südliche Küste Bahias
Die Erschließung neuer Regionen durch den Bau von Straßen in den sechziger und siebziger Jahren bot die Gelegenheit, diesen Fragestellungen durch unmittelbare Beobachtung in Feldforschungen nachzugehen. In einem von der Gesellschaft Neue Diffusion entworfenen Projekt, das vom Museum der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde unterstützt wurde, wurde unter Teilnahme von Studenten der Fakultät für Architektur und Städtebau der Universität São Paulo eine Forschungsreise unternommen, die in neu erschlossenene Gebiete der Südküste von Bahia führte.
Die Region zwischen den Bundesstaaten Espírito Santo und Bahia wies bis wenige Jahre zuvor große Gebiete zusammenhängender Urwälder auf, in denen Indianergruppen lebten. Hier konnte somit eine vergleichbare Situation angetroffen werden, wie es sie für große Teile der Küste Bahias in früheren Jahrhunderten gegeben hatte. Aus der Literatur waren
Folia de Reis, südliche Küste Bahias
die Probleme bekannt, die aus der expandierenden Landwirtschaft und den Versuchen der Besiedlung - auch von deutschen Immigranten - für diese Indianergruppen im 19. Jahrhundert aufkamen. Reiseberichte aus der Zeit der Unabhängigkeit Brasiliens (1822) vermittelten Daten über die Kulturveränderungen dieser Völker, die Kunst, Literatur und das Bild Brasiliens im Ausland prägten. Nördlich dieses Waldgebietes, das nun durchschnitten wurde, wies die Küste Bahias alte Hafenstädte aus der Kolonialzeit auf, die bis dahin weitgehend abgeschottet von der Außenwelt existierten.

Unter diesen Umständen konnten in besonders intensiver Weise traditionsgebundene Praktiken weiterleben, die auf ältere Formen des kirchlichen Lebens zurückgingen. So waren diese Gemeinden besonders durch Reiterspiele bekannt, die den Kampf zwischen Christen und Mauren inszenierten oder aus Darstellungen des karolingischen Zyklus bestanden. Beobachtet wurden u.a. die Auswirkung der im Bau befindlichen Küstenstraße auf Comacã-Gruppen, die nun in die neu entstandenen, rudimentären Raststationen für Lastwagen umsiedelten. Es wurde untersucht, ob und wie diese halb-integrierten Indianer in das Netz der besuchten Häuser der umherziehenden "Folias"-Gruppen einbezogen wurden, die ihren Sitz in den alten Hafenstädten hatten. Ziel der Forschungen war es, die Interaktionen und die Veränderungsvorgänge zu beobachten, die sich durch die Begegnung von indigenen Gruppen, die bis vor kurzem isoliert lebten, mit einer traditionsgebundenen Volkskultur, die mit Mechanismen eines Kolonialprozesses verbunden war, ergaben.





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