Spiele, Tänze und Musik des Nordostens Brasiliens aus kulturwissenschaftlichem Ansatz. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Spiele, Tänze und Musik des Nordostens aus kulturwissenschaftlichem Ansatz
Tagung in Marechal Deodoro, Alagoas (1972)

S. Cristovao SE 1972. Arbeiten von A.A.Bispo
Die Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien Brasiliens, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft "Neue Diffusion" (heute Organisation "Brasil-Europa") führten, gingen von Diskussionen aus, die das Verhältnis zwischen Geschichte und empirischer Forschung betrafen (siehe Bericht).

Die Volkskunde, die bei den theoretischen Auseinandersetzungen besonders berücksichtigt wurde, befand sich in einer Phase des Umbruchs, die von kritischen Überlegungen hinsichtlich der Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes und der Definition des Faches geprägt war.

Während die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Kulturprozesse anstrebte, bemühten sich führende Vertreter der Volkskunde aus dem Umkreis der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde um eine neue Auffassung von Volkskultur. Anstatt die Betonung auf die Kriterien der Traditionalität, Anonymität und kollektiven Akzeptanz zu legen, wurde als Hauptcharakterisierung der Volkskultur ihre nicht von Instanzen der Bildungskultur geleitete Entstehung angesehen.

Diese Änderung der Auffassungen begründete theoretisch eine Umorientierung des Forschungsinteresses auf nicht traditionsgebundene Äußerungen einer spontan entstandenen Kultur "folk" in allen Bereichen des Lebens, insbesondere auf eine Kultur des Alltags. Dies hatte allerdings weitreichende Konsequenzen für die Betrachtung der Kulturtraditionen, die bis dahin den Mittelpunkt des volkskundlichen Interesses gebildet hatten.

Feste, Spiele, Tänze, Aufzüge und andere Erscheinungsformen kultureller Tradition waren am reichhaltigsten im Nordosten Brasiliens und prägten dementsprechend mit besonderer Intensität das Kulturbewusstsein dieser Region und die volkskundliche Forschung im Allgemeinen.

Persönlichkeiten der Kulturstudien aus dem Nordosten Brasiliens übten durch ihre Arbeiten und ihr Wirken eine herausragende Funktion in der volkskundlichen Arbeit auf nationaler Ebene aus. Es waren unter ihnen unterschiedliche Tendenzen des volkskundlichen Denkens festzustellen. Neben denjenigen, die vor allem unter der Leitgestalt von Luís da Câmara Cascudo eher die Traditionalität in der Kulturbetrachtung betonten, gab es Forscher, die sich mit den Ansätzen der Sozialwissenschaften besonders auseinandersetzten.

Alagoas 1972, Forschungen von A.A.Bispo
Diese unterschiedlichen Tendenzen waren in der volkskundlichen Zusammenarbeit auf nationaler Ebene spürbar und fanden ihren Ausdruck auch in der Existenz zweier großen Vereinigungen, die sich als Vertreter der brasilianischen Volkskunde ansahen. Eine von diesen, die Brasilianische Gesellschaft für Volkskunde mit Sitz in São Paulo, musste dementsprechend ihre Mitglieder im Nordosten aus mehreren Gründen in die Diskussion um die Erneuerung des Forschungsgegenstandes und der Bestimmung des Faches einbeziehen.

Aus diesem Grunde unterstützte sie eine Initiative der Organisation für Studien von Kulturprozessen, die die Erneuerung der Kulturstudien durch die Orientierung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes förderte, obwohl diese primär die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft anstrebte.

Mit ihrer Unterstützung konnte eine Tagung im Rahmen des Folklore-Festivals von Maceió und Marechal Deodoro im Bundesstaat Alagoas realisiert werden. Die Leitung der Arbeiten an Ort und Stelle übernahm Prof. Dr. Théo Brandão von der Bundesuniversität Alagoas. Die Tagung wurde von Gesprächsrunden in anderen Bundesstaaten des Nordostens begleitet, u.a. vor allem in Sergipe und Pernambuco.

Kirchenmusik des Nordostens, Forschungen A.A.Bispo
Die Reflexionen kreisten vor allem um das Verhältnis zwischen den Tendenzen der kultur- und sozialanthropologisch ausgerichteten Volkskundler bei der Betrachtung des reichhaltigen Repertoires traditioneller Spiele des Volksbrauchtums einerseits und den Positionen der eher traditionalistisch ausgerichteten Forscher auf der anderen Seite. Gleichzeitig sollte die Möglichkeit einer Annäherung der Auffassungen an die neuen Ansätze der Volkskundler aus São Paulo und derjenigen, die eine Entwicklung transdisziplinärer Kulturwissenschaft anstrebten, erörtert werden. 

Für diese Debatte wurde die Advents-, Weihnachts- und Epiphaniezeit als die Epoche des Jahres gewählt, die am meisten von Tänzen, Spielen, Aufführungen u.a. traditionsgebundenen Kulturerscheinungen geprägt ist. Die theoretischen Überlegungen erfolgten somit auf Grundlage zahlreicher vorgeführter Darstellungen und Tänzen verschiedener Gruppen, u.a. von Krippen- und Pastoralspielen, Inszenierungen mit Tanz und Musik um das Sinnbild des Schiffes (Barcas und Cheganças) sowie verschiedenen Formen von Epiphanie-Spielen (Reisados), insbesondere Kampfspielen (Guerreiros).

Da sich Théo Brandão eingehend mit historischen Fragen beschäftigt hatte, die Ursprung, Entwicklung und Verbreitung mehrerer dieser Spielen betrafen, wurde am Beispiel der beobachteten traditionellen Erscheinungsformen des Brauchtums des Advents- und Weihnachtszyklus das Verhältnis zwischen historischer und empirischer Kulturforschung besonders besprochen, was dem Anliegen der Gesellschaft für die Erneuerung der Kulturstudien entsprach.

Die von dieser angestrebten Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes wurde in dem Sinne ausdifferenziert, dass es weder ausreichte, den historischen Verlauf bei der Übertragung dieser Bräuche von der iberischen Halbinsel nach Brasilien noch sozio-historische Prozesse zu untersuchen, die ihre Ausbreitung und Pflege in Brasilien erklärten. Auch durfte sich eine auf das Studium von Prozessen ausgerichtete Forschung, die die Entwicklung einer transdisziplinärer Kulturwissenschaft anstrebte, nicht damit begnügen, sich kultursoziologisch mit der Untersuchung der Auswirkungen einer Politik der Kulturdiffusion zu beschäftigen, die sich der Förderung und Propagierung dieser Ausdrucksformen des traditionellen Festrepertoires u.a. im Unterricht und für den Tourismus verschrieben hatte.

Da diese Spiele den Zyklen des religiösen Kalenders angehörten und somit ein bestimmtes Welt- und Menschenbild zum Ausdruck brachten, musste in den zugrundliegenden Auffassungen Prozesshaftes aufgespürt werden. Nur die Untersuchung der innewohnenden Mechanismen dieser Darstellungen konnte die bemerkenswerten Vermischungen, Annäherungen und Harmonisierungen von Bildern der Zeichensprache der im Mittelpunkt des festlichen Kontextes stehenden Krippe erklären. Es mussten somit die intrinsischen Vorgänge eruiert werden, die die Einbeziehung von Bildern aus unterschiedlichen Geschichtskontexten und mit Gegenwartsbezug ermöglichten. Die empirische Beobachtung wies hier somit auf Eigenarten des Geschichtsverständnisses hin, das aus der Bildersprache der Volkstraditionen zu untersuchen war. Mit diesem Ansatz schien es möglich, Wege zur Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zu finden.





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