Kulturwissenschaftlich geleitete Aufführungspraxis. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Kulturwissenschaftlich geleitete Aufführungspraxis
Tagung zur Einführung kulturwissenschaftlich orientierter Aufführungspraxis und Repertoirestudien in den Fächerkanon (1973)

Konzert an der Kirche Boa Morte SP 1974, Ltg. A.A.Bispo
Seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstanden theoretische und praktische Erneuerungsbestrebungen im Kulturstudium und Musikleben Brasiliens. Einerseits wurde die Notwendigkeit spürbar, über das Verhältnis zwischen historischer und empirischer Forschung zu reflektieren, was zu neuen Ansätzen in Musikgeschichte und Volkskunde führte. Dabei kam man zur Einsicht, dass über diese Erneuerung innerhalb einzelner Fächer hinaus die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturforschung anzustreben war. Diese Erneuerungsbewegung führte im Jahre 1968 zur Gründung der Gesellschaft, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Kulturprozesse richtet und die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zum Ziel hat.

Andererseits war festzustellen, dass die Erneuerung des Musiklebens durch die Propagierung neuen Musikrepertoires von Kulturämtern, Konzertgesellschaften und privaten Initiativen angestrebt wurde. Zu diesen Bestrebungen zählte nicht nur die Neue, sondern auch die Alte Musik. Durch Cembalisten und Ensembles von alten Musikinstrumenten, die dazu importiert werden mussten, sollte die Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock gepflegt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht und dadurch zu einer Erneuerung des Konzertlebens beitragen werden, das allzusehr auf das klassisch-romantische Repertoire beschränkt war.

Diese Bestrebungen bestimmter Kreisen führten zu einer intensiven Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis. Das Studium der Fachliteratur und die Auseinandersetzung mit Fragen der korrekten Deutung und Ausführung von Ornamenten, der Instrumentalbesetzung, des Generalbasses u.a beschäftigten Interpreten und Musiker.

Chor und Orchester f. Kirchenmusik S.Paulos, Ltg. A:A.Bispo
Während der jährlich stattfindenden Internationalen Kurse des Bundesstaates Paraná wurden Anregungen zur Auseinandersetzung mit der historischen Aufführungspraxis von amerikanischen und europäischen Gastdozenten vermittelt.

In São Paulo entstand mit Musikantiga ein Ensemble, das eine Faszination für die Alte Musik vor allem bei der Jugend zu wecken wusste. Die ihm nachfolgende Gruppe Paraphernalia trug zur Steigerung dieses Phänomen eines "Kultcharakters" der Alten Musik durch den Einsatz von kommunikationswirksamen Auftritten mit inszenatorischen Mitteln bei.

Dieses Ensemble stand in enger Beziehung zu der Gesellschaft für die Erneuerung der Kulturstudien, die 1968 gegründet wurde. Die Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis nach Tendenzen in Europa und in den USA wurde unter dem Aspekt der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen empirischer und historischer Forschung reflektiert.

Nicht nur die Anwendung der aus der Literatur, den Tonaufnahmen und dem Beispiel und der Vermittlung von Gastmusikern aus Europa gewonnenen Kenntnisse auf die Musik Brasiliens der Vergangenheit wurde angestrebt. Die kulturell angemessene Art und Weise der Aufführung für eine größere Akzeptanz dieses Repertoires in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten der Großstadt und des Hinterlandes wurde zu einem wichtigen Gegenstand der Auseinandersetzung und vielfach erprobt.

Diese Versuche korrelierten mit den Bestrebungen, bei Studien von Kulturprozessen und in Feldforschungen Interpretations- und Vortragsweisen, Instrumental- und Gesangstechniken sowie Aufführungseigenarten bei traditionsgebundenen Vokal- und Instrumentalgruppen von Städten des Hinterlandes zu beobachten und zu untersuchen.

So konnte 1970 aus Forschungen in São João del Rey die Einsicht gewonnen werden, dass die von europäischen Beobachtern sowie in Europa ausgebildeten Geistlichen und Musikern der Vergangenheit als Zeichen des Unvermögens, mangelnder Ausbildung oder der Dekadenz bewerteten Eigentümlichkeiten der Musikpraxis und der klanglichen Verwirklichung von Musikwerken in Wirklichkeit Ergebnisse einer anders gearteten Haltung gegenüber der Musik und dem Musizieren waren, aus kulturellen Formungsprozessen resultierten und Kulturwerte darstellten.

Diese Charakteristika zu beheben bedeutete, diese Musik ihrer eigenen Qualitäten zu berauben. Die Werke - wenn nach europäischen Qualitätskriterien aufgeführt - würden auf das Niveau minderwertiger europäischer Kompositionen degradiert und ihre Bedeutung verlieren. Diese Gegebenheiten sollten von der historischen Musikforschung beachtet werden, die mit der Restaurierung und Aufführung alter Noten der Kolonialzeit beschäftigt war, dabei auf Ungereimtheiten in den Partituren stieß und sich um die Angemessenheit der Aufführung dieser Musik neben Werken europäischer Komponisten der Zeit sorgte.

Aus der empirischen Erforschung konnte somit die Aufmerksamkeit der historischen Musikforschung auf das Problem der kontextgerechten Aufführung von Notenmaterial der Kulturüberlieferung Brasiliens gelenkt werden. Als ein Land der Mission vergangener Jahrhunderte, bei der die Musik eine bedeutende Rolle spielte, wurde diese im Rahmen eines tiefgreifenden Prozesses der Kulturtransformation eingesetzt, und ihre Pflege und klangliche Verwirklichung diente Vorgängen der Sozialisation und Integration in die angenommene Kulturwelt.

Die Freude an Teilnahme und Mitwirkung, die das Gemeinschaftsgefühl stärkte, stand im Vordergrund, nicht das Anliegen, die Vokal- und Instrumentalaufführung nach europäischen Kriterien historischer Aufführungspraxis und konzertanter Perfektionsideale zu gestalten. Es war unter diesem Aspekt erforderlich, bei Feldforschungen empirisch gewonnene Erkenntnisse in die historische Aufführungspraxis einfließen zu lassen. Diesbezüglich eröffnete sich ein fächerübergreifendes Arbeitsfeld, das vor allem bei der Hochschulausbildung von Musik- und Kunstlehrern, die z.T. in Städten des Hinterlandes wirkten, beachtet werden sollte.

Aus diesen Gründen wurde mit Unterstützung des Kultusministeriums Brasiliens das kulturwissenschaftlich konzepierte Fach "Aufführungspraxis und Repertoire" in den Fächerkanon der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos eingeführt.

Antonio Alexandre Bispo





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