Musik und urbaner Prozess. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

Akademie Brasil-Europa

für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Musik und urbaner Prozess
Museu Paulista der Universität São Paulo, Fakultät für Musik- und Kunsterziehung São Paulos, 1973

São Paulo 1973 aus der Musik- und Kunstfakultät
Die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien und zur Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft führte, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, verlangte nach einer Umänderung der Denkweisen in den verschiedenen Disziplinen, die sich Kulturfragen widmen. Die Aufmerksamkeit sollte nicht so sehr auf Kategorien der Bildungs-, Volks- und Popularkultur gerichtet werden, sondern auf Prozesshaftes, das zwischen diesen postulierten Kultursphären verlief. Dadurch wurde eine allmähliche Überwindung bzw. Relativierung einer Denkweise angestrebt, die aus Kategorisierungen des Untersuchungsgegenstandes und der daraus resultierenden Einteilung von Disziplinen hervorging.

Diese besondere Beachtung von Prozesshaftem brachte die Überlegungen in besondere Nähe zur Diskussion, die in Kreisen von Theoretikern an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Universität São Paulo durchgeführt wurden. Aus der Zusammenarbeit entstanden verschiedene Projekte, die sowohl im Rahmen der Architekturforschung an der Universität als auch der Volkskunde am Museum der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde und der Musik an der Fakultät für Musik- und Kunsterziehung São Paulos zwischen 1969 und 1974 durchgeführt wurden.

Eines dieser Projekte betraf die Entwicklung einer kulturwissenschaftlich orientierten Musikwissenschaft bzw, Musikkulturforschung ausgehend von einer besonderen Berücksichtigung urbaner Prozesse. Um dieses Vorhaben durchzuführen, wurde der erste Hochschulkurs Brasiliens ins Leben gerufen und durchgeführt, der die Beziehungen zwischen Architektur-Theorie und Musikkulturstudien zum Gegenstand hatte.

Aus Suspiro Tonal, A.A.Bispo
In diesem Kurs sollte am Beispiel der Stadt São Paulo die urbane Entwicklung im Verlaufe der Jahrhunderte in ihren Bezügen zu musikkulturellen Vorgängen aufgespürt und untersucht werden. Das Projekt ging von dem Ansatz aus, dass die Konzentration indigener Gruppen der Region in einem Missionsdorf zur Gründungszeit von São Paulo einen grundlegenden Veränderungsprozess in Gang setze, der sowohl räumliche Konfiguration als auch Kulturleben betraf. Wie die ethnologische Forschung aufzeigte, ist raumgestalterische Dorfstruktur bei indigenen Gesellschaften eng mit einem Welt- und Menschenbild verwoben, das wiederum Tänze und andere kulturelle Ausdrucksformen bestimmt. Reduktionen und andere Maßnahmen der Ansiedlung von Indianergruppen an bestimmten Orten durch Siedler und Missionare bedeuteten den Beginn nicht nur der zukünftigen Stadt und des darauf gestützten Netzwerks von Wegen, die Verbindungen zur Küste und ins Landesinnere gewährleisteten, sondern auch der Geschichte der Kulturentwicklungen, die von der Übertragung und Adaptation von Spielen und Tänzen europäischer Traditionen, dem Beginn des Musikunterrichts in Missionsschulen, der Kirchenmusikpflege und der weltlichen Musikausübung ausgingen.

Eine neue Phase dieses Prozesses, die durch den Ausbau eines urbanen Netzwerkes eng mit der Erschließung des Hinterlandes Brasiliens verbunden war, wurde durch das Vordringen der "Bandeirantes" ins Landesinnere und zu Missionsgebieten Paraguays, um Indianer als Arbeitskräfte nach São Paulo zu entführen, eingeleitet. Damit war die Entwicklung der Stadt eng mit einem Expansionsprozess der westlich geprägten Gesellschaft verbunden, der sowohl mit der Entstehung von Städten im Landesinneren als auch mit der Diffusion von Tänzen, Spielen und Musikpraktiken von São Paulo aus in weite Teile Brasiliens einherging. In reziproker Weise sollte der kulturelle Einfluss der z.T. christianisierten Missionsindianer, die nach der Vertreibung der Jesuiten in das Gebiet kamen, untersucht werden.

Eine besondere Berücksichtung wurde der Entwicklung São Paulos im 19. Jahrhundert gewidmet, das vor allem als Universitätstadt durch die Gründung der Jura-Fakultät geprägt war, die Studenten aus verschiedenen Regionen Brasiliens anzog und kosmopolitische Tendenzen des Kultur- und Musiklebens förderte.

Als Zentrum des entstandenen Eisenbahnnetzes im Rahmen der landwirtschaftlichen Entwicklung der Provinz wurde São Paulo zum Ziel europäischer Einwanderer, die Musik und Kulturtraditionen aus verschiedenen Teilen Europas mit sich brachten und maßgeblich zur Entwicklung eines diversifizierten Musiklebens beitrugen. Nicht nur Oper, Konzertleben, Kammermusikpraxis oder Musikunterricht an Konservatorien waren zum großen Teil Immigranten zu verdanken, sondern auch ein eigenständiges Musik- und Kulturleben in den von ihnen bewohnten Stadtvierteln.

Die Erforschung des Verhältnisses zwischen Immigration und Musik im Bereich der Musikkulturforschung, die sowohl empirische als auch historische Verfahrensweisen verlangte, sollte ebenfalls in enger Beziehung zu einer urbanen Forschung stehen, die die Entstehung und Veränderung von Stadtteilen mit ihren unterschiedlichen Kulturprägungen und Identifikationen zum Ziel hatte. Die durch die Industrialisierung ermöglichte Expansion der Stadt, die zu einer Metropole wurde, welche angrenzende Orte und Städte eingemeindete und neue Peripherien schuf, verlangte ebenfalls aus kultur- und musikgeschichtlichen Perspektiven betrachtet zu werden. Das Bild und das Kulturbewusstsein dieser Stadtteile konnte nur aus der Berücksichtung lokaler Musikvereine und -gruppen sowie von einer Popularmusik, die sich auf das Leben in diesen Vierteln bezog, ergründet werden. Die Entstehung eines Theaternetzes in der Großstadt konnte auch Hinweise auf das Musikleben in den verschiedenen Stadtteilen in ihren Bezügen zueinander und zum Zentrum vermitteln. Ebenfalls konnten die komplexen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und die nur ansatzweise verwirklichten Planungen urbaner Gestaltung unter einer kulturwissenschaftlich orientierten Perspektive in ihren Bezüge zum Musikleben betrachtet werden.

Die Interaktion zwischen empirischen und historischen Vorgehensweisen betraf nicht nur die Kulturprozesse, die Gegenstand der Betrachtung waren. Sie sollte sogar die Durchführung des Kurses selbst bestimmten. Dementsprechend wurden neben Seminaren praktische Übungen der räumlichen Wahrnehmung und der Stadtlektüre durch Begehung von Straßen und Plätzen veranstaltet. Kolloquien wurde vor dem Stadtmodell von São Paulo zur Kolonialzeit im Museum der Universität São Paulo am Ipiranga durchgeführt.





Sitemap


Die Akademie

Zielsetzung und Geschichte   -   Organisation   -   Studienzentrum   -   Archive

Aktivitäten

Forschungsprogramme   -    Themen   -   Berichte   -   Chroniken

Online-Zeitschrift

Revista Brasil-Europa

Institutionelle Bindungen

Brasil-Europa   -   I.S.M.P.S. e.V.

Allgemeines

Kontakt   -   Impressum