Wilhelminische Studien im Kontext Deutschland/Brasilien. Studienzyklus der Akademie Brasil-Europa für Kultur-und Wissenschaftswissenschaft

Akademie Brasil-Europa

für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Themen
Auswahl von Fragenkomplexen, die in rezenten Studienprojekten der A.B.E. behandelt wurden

Wilhelminische Studien unter der Perspektive von Kulturprozessen im Kontext Deutschland/Brasilien: Fragen von Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein
(2009)


Bei einer Sitzung im Museum zur Immigration und Kolonisation von Nova Petrópolis/RS im Rahmen des Forum Rio Grande do Sul 2002 wurde die Frage der adäquaten Perspektive bei der Untersuchung von Kulturfragen, die sich in von der deutschsprachiger Einwanderung maßgeblich geprägten Regionen Brasiliens stellen, diskutiert.

Bereits kurz nach der Gründung der Organisation für Studien von Kulturprozessen 1968 in São Paulo wurde bei einer Sitzung die Notwendigkeit hervorgehoben, die Kulturstudien zu den Beziehungen Deutschland/Brasilien unter Einbeziehung der Immigrationsstudien theoretisch zu reflektieren. Die bemerkenswerte Kluft zwischen einer von Kulturinstituten entwickelten Diffusionspolitik mit Betonung zeitgenössischer Entwicklungen in der Bundesrepublik in den großen Zentren des Landes und dem Kulturleben in den Kreisen und Gebieten, die von Deutschen und ihren Nachkommen kulturell geprägt waren, sollte überbrückt werden.

Neue Perspektiven bei der Behandlung der Immigration und ihrer Konsequenzen für die Kultur waren für eine Erneuerung der Volkskunde Brasiliens erforderlich, die durch das Weiterleben nationalistischer Anschauungen der Vergangenheit als dringend notwendig empfunden wurde. Diese Erneuerung sollte durch eine stärkere Ausrichtung der Aufkmerksamkeit auf Prozesshaftes in Gang gesetzt werden, was auch neue Wege zur Berücksichtigung von Kulturfragen in Kontexten der Immigration ermöglichte. Bis dahin waren diese Fragen behandelt worden vor allem unter der Perspektive der Integration der Einwanderer und ihrer Nachkommen in eine als nationalbrasilianisch konnotierte Kultur und den Beitrag, den sie dazu geleistet hatten. Kulturentwicklungen in diesen Gemeinschaften fanden keinen adäquaten Platz in Disziplinen, die von einer starren Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes in Sphären der Kunst-, Volks- und Popularmusik ausgingen. So konnten musikkulturelle Fragen dieser Gemeinschaften weder in der brasilianischen Musikgeschichte - außer wenn sich Komponisten nationalistischer Tendenzen brasilianischer Ästhetik annahmen - noch in der Volkskunde oder in der Popularmusik angemessen behandelt werden. Um dieses Bestreben der Erneuerung der Kulturstudien an Ort und Stelle zu besprechen, wurde 1973 eine Kontakt- und Studienreise in Gebiete Südbrasiliens unternommen, deren Kolonisation durch europäische Einwanderer auf das 19. Jahrhundert zurückging.

Diese Arbeiten wurden unter verschiedenen Aspekten in den darauffolgenden Jahren durchgeführt, wobei die Veranstaltung einer Deutsch-Brasilianischen Musikwoche 1981 in Nordrhein-Westfalen hervorzuheben ist, bei der vor allem Fragen einer kulturwissenschaftlich orientierten Musikerziehung aufgeworfen wurden und Probleme und Methoden erzieherischer Natur bei Studien zu Kulturformung und -umformung eine besondere Beachtung fanden.

Bei der Entwicklung dieser Studien trat zunehmend ins Bewusstsein, dass die angestrebte Erneuerung der Kulturstudien im Rahmen Deutschland/Brasilien mit der notwendigen Einbeziehung des Prozesses, der durch die Einwanderung aus dem deutschsprachigen Raum veranlasst wurde, nicht nur eine Frage der Aktualisierung der brasilianischen Kulturbetrachtung darstellte. Sie erforderte die Berücksichtigung der besonderen Kultursituation in der Bundesrepublik Deutschland selbst, die durch den Ausgang des Krieges und den Neuanfang bestimmt war. Sie bedingte Orientierungen und Aktivitäten im Bereich deutsch-brasilianischer Bemühungen, die somit selbst als eine Kulturerscheinung der Nachkriegszeit anzusehen und zu untersuchen sind.

Diese Situation war von einer - zu rechtfertigenden - Trennung vom Vergangenen geprägt, das bewältigt werden sollte, bedingte aber einer Verdrängung und ein Verschweigen von Namen, Fakten und Entwicklungen, was zur paradoxen Entstehung von verschiedenen Wissenskulturen führte. Nicht nur die Nachkommen der Einwanderer in Brasilien mussten sich mit neuen Persönlichkeiten und Entwicklungen des Kulturlebens vertraut machen und sich mit einem Bild des Landes auseinandersetzen, in dem für sie geläufige Namen und Begebenheiten kaum Erwähnung fanden, sondern auch die Deutschen wurden beim Kontakt mit der aus der Immigration entstandenen Kulturwelt mit Gestalten und Sichtweisen konfrontiert, die unbekannt waren oder nur als blasse Schatten längst vergangener Zeiten erschienen, die nur im Gedächtnis von "Ewiggestrigen" lebendig blieben.

Da das Hauptanliegen der A.B.E. darin besteht, kulturwissenschaftliche Studien in engem Zusammenhang mit der Erforschung der Forschung selbst durchzuführen, was die Analyse der Produktion des Wissens und der an ihr beteiligten Netzwerke erforderte, stellte sich die Frage, ob die paradox erscheinende Situation unterschiedlicher Wissenskulturen und Verständnisweisen historischer Verläufe nicht aus einer anderen, übergeordneten Perspektive betrachtet werden könnte, die neue Wege für die Zukunft in reflektierter wechselseitiger Kooperation eröffnet.

Ein Aspekt dieser Diskussion, der in der erwähnten Sitzung in Nova Petrópolis zur Sprache kam, betraf Kontinuität und Diskontinuität im Geschichtsbewusstsein. Die Auswanderer, die ihre Heimatländer im 19. Jahrhundert verlassen hatten, brachten zwar die Erfahrung der Not mit sich, aber auch ein Bild von Entwicklungen, die durch die Bewegung zur Einheit in der Vielfalt der deutschen staatlichen Gebilde, die Gründung des deutschen Reiches und den wirtschafltichen und kulturellen Aufschwung in den letzten Jahrzehnten des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert geprägt waren. Der wachsende Wohlstand in den Kolonien entsprach diesen aus der Ferne mitverfolgten, positiven Entwicklungen in der alten Heimat. Die Auswanderer erlebten in ihrer Mehrheit das Gräuel des Krieges und die Niederlage meist nur durch deren Folgen in Form von Repressionen bei der Pflege ihrer Sprache und Kultur. Das Bild der Entwicklungen in Deutschland blieb von einem Aufstieg geprägt, dessen höchste Ausprägung in der wilhelmischen Vorkriegszeit lag. Da der Prozess, der im 19. Jahrhundert in Gang gesetzt worden war, eine eigene Dynamik durch die folgenden Generationen entfaltet hatte, erlebten die von ihm Betroffenen in ihrer Mehrheit die große Zäsur durch dessen Auswirkungen und bereits aus der Distanz. Ähnliche Situationen können bei anderen Volksgruppen von Immigranten in Brasilien festgestellt werden, bei denen die späteren Generationen zwar Entwicklungen im Land der Vorfahren mit Interesse verfolgen, sich aber bereits in fortgeschrittener Phase der Identifizierung mit ihrem Gastland befinden.
In der Deutung der Entwicklungen der Vorkriegszeit, d.h. der letzten Jahrzehnte des Deutschen Reiches, scheint somit ein grundlegendes Problem zu bestehen, welchem sich kulturwissenschaftlich orientierte Studien im Kontext Deutschland/Brasilien annehmen müssen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Bildern und Zeichen im Gedächtnis und im Geschichtsbewusstsein. Zwangsläufig wird der Forscher mit dem Problem des Bildes von Kaiser Wilhelm II. in der deutschen Historiographie und im Kulturgedächtnis in deutsch geprägten Regionen Brasiliens konfrontiert. Angeregt durch seinen 150. Geburtstag wurden eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt, die das Problem wilhelminischer Studien aus der Perspektive euro-brasilianischer Kontexte behandeln.

Da aus deutscher Sicht der Ausgang des Krieges und das Exil des Kaisers in den Niederlanden das Bild weitgehend bestimmen, wurden Überlegungen an Ort und Stelle im Haus Doorn durchgeführt. Dabei wurden die Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden berücksichtigt, die das Leben des Ex-Monarchen im Ausland ermöglichten und die durch Studien zur Herkunft der Königin Emma aus Waldeck-Pyrmont in Bad Aroldsen vertieft wurden. Durch die hier festgestellte Bedeutung von dynastischen und familiären Netzwerken innerhalb Europas für das Verständnis von Prozessen in der Kulturgeschichte Europas wurde die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen den Herrscherhäusern Europas zur wilhelminischen Zeit gerichtet. Dabei wurde der Versuch unternommen, Konfigurationen von Staaten zu erkennen, die neue Perspektiven für Kulturstudien in internationalen Beziehungen eröffnen.

Ein Themenkomplex, der besonders berücksichtigt wurde, betraf die Bedeutung der Reisen und Seefahrten in ihren Beziehungen zur Auswanderung in wilhelminischer Zeit, was mit der Entwicklung der deutschen Marine und des Schiffbaus einherging und von der Gestalt Albert Ballin geprägt wurde. Im Zusammenhang mit der trotz aller Familienbindungen nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen erwachsenen Spannungen gegenüber der britischen Seemacht wurden einige Aspekte der Geschichtsdiskussion über die Gründe des Krieges ins Bewusstsein gebracht, die unterschiedliche Deutungen von Kulturentwicklungen und gar kulturphilosophischen Auffassungen erkennen lassen. So wurden Ansichten erneut diskutiert, die eine "Ethik der Pflicht" der deutschen Kultursphäre einer "Ethik des Erfolges" des angelsächischen Raumes gegenüberstellten, und es wurde die Frage behandelt, ob eine solche Auffassung der "Prussianität" aus der Perspektive der Gemeinschaften deutscher Herkunft in Brasilien zutreffend bzw. differenziert genug ist.


Veröffentlichte Texte


Gedächtnis, Bilder der Vergangenheit und historisches Bewusstsein im Kontext Deutschland/Brasilien und Brasilien/Deutschland

Gedächtnis und Bilder von Residenzen und Zentren der Macht. Petrópolis und Potsdam

Waldeck-Pyrmont und die Niederlande: Beziehungen im Licht von Studien zum Geschichtsbewußtsein deutscher Einwanderer in Brasilien

Reisen, Entwicklung der Seefahrten und Auswanderung in wilhelminischer Zeit. Albert Ballin (1857-1918)

Netzwerke in der kulturpolitischen Geschichte. Beziehungen zwischen Herrscherhäusern Europas zur wilhelminischen Zeit:

1) Deutschland-Rumänien-Griechenland-Dänemark-Schweden

2) Die Hohenzollern und das Haus Sachsen-Coburg. Deutschland-Portugal-Belgien-Bulgarien

3) Deutschland-Österreich-Ungarn-Italien und Russland

Das deutsche Kaiserreich und das britische Weltreich. "Prussianität", Ethik der Pflicht und Ethik des Erfolges





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