Erneuerung der Kulturstudien und Traditionalismus in der Volkskunde von Rio Grande do Sul. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Erneuerung der Kulturstudien und Traditionalismus in der Volkskunde von Rio Grande do Sul
Gesprächsrunde am Kabinett für volkskundlicher Studien, Porto Alegre, 1970

Die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien nahm 1966 ihren Anfang in der Diskussion um das Verhältnis zwischen historischer und empirischer Forschung (siehe Bericht). Im Bereich der Volkskunde wurden Überlegungen angestellt über die Kriterien, die bis dahin das Fach definierten und seinen Untersuchungsgegenstand bestimmten. Diese Kriterien waren Jahre zuvor bei einem nationalen Kongress für Volkskunde festgelegt worden. Sie bestimmten als Charakteristika einer Kulturerscheinung, die als "Folklore" und somit als Objekt der Volkskunde anzusehen war, die Traditiononsgebundenheit, die Anonymität und die kollektive Akzeptanz. Diese Kriterien wurden im Verlaufe der Debatten infrage gestellt. Es war die Ansicht führender Volkskundler, dass Folklore nicht unbedingt traditionsgebunden und anonym sei. Es gab beispielsweise Volkslieder, deren Autoren bekannt geworden waren, und neu entstandene, nicht traditionsgebundene Erscheinungsformen von Folklore.

Die Auffassung einer Dynamik des Folklore nach der Formulierung von Edson Carneiro wurde auch in Kreisen des Museums der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde anerkannt und prägte die Diskussion. Der Begriff der Tradition wurde möglichst vermieden, zumal er auch zu dieser Zeit von katholisch-fundamentalistischen und rechtsextremen Organisationen in Anspruch genommen wurde. Die Aufmerksamkeit wurde in diesen volkskundlichen Kreisen auf die Art und Weise des Erlernens und der Sozialisation gerichtet. Im Gegensatz zur Bildungskultur entstand "Folklore" in spontaner Weise und konnte somit als "spontane Kultur" bezeichnet werden.

Die 1968 gegründete Gesellschaft, die die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zum Ziel hatte, nahm trotz unterschiedlicher Auffassungen und übergeordneter Zielsetzung an dieser Auseinandersetzung um die Erneuerung der Volkskunde teil. Die Diskussion sollte unter Einbeziehung von Kreisen aus verschiedenen Regionen Brasiliens durchgeführt werden. Ein besonderes Problem für eine Verständigung über neue Kriterien zur Bestimmung der Volkskunde stellte die Fachtradition in Rio Grande do Sul dar. Für Volkskundler aus dem Süden Brasiliens war von ehedem der Begriff der Tradition maßgebend für die Auswahl des Forschungsgegenstandes, die Durchführung der Arbeit und deren Zielsetzungen. Erforschung der Tradition war dort in besonders intensiver Form mit Traditionspflege verbunden. Die Zentren für Gaúcho-Traditionen waren verbreitet und aktiv.

Kontakte zwischen Volkskundlern aus Rio Grande do Sul und den Kreisen aus São Paulo der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde wurden seit langem gepflegt. Obwohl anerkannte Forscher aus dem Süden in São Paulo Kurse und Vorträge hielten, schien es notwendig, die neuen Bestrebungen hinsichtlich epistemologischer und methodologischer Erneuerung des Faches an Ort und Stelle zu besprechen. In einer Initiative der Gesellschaft, die die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft anstrebte, fand 1970 ein Treffen in Porto Alegre mit Mitgliedern des Kabinetts für volkskundliche Forschung statt. An dem Gedankenaustausch nahmen auch Dirigenten und Musiker, die sich mit der Popularmusikforschung befassten, sowie Popkünstler teil, die in einer Show mitwirkten, die die Konstruktion eines "Stars" zum Thema hatte (siehe Bericht).

Die Volkskundlerin Marie Rose Agrifoglio hob in Namen eines Kreises von jungen Forschern und Interessenten eine grundsätzliche Bereitschaft hervor, die Aufmerksamkeit auf Prozesse zu richten und an der Diskussion über das Verhältnis zwischen historischen und empirischen Ansätzen in der Kulturforschung teilzunehmen. Diese damals begonnene Zusammenarbeit sollte Jahrzehnte andauern.

Auf der anderen Seite wurde jedoch die Bedeutung des Traditions-Begriffs verteidigt. Traditionsbewusstsein sollte von Traditionalismus unterschieden werden. Es wurde an der Position der Volkskundler aus São Paulo eine Einseitigkeit bei der Verurteilung dieses Begriffes kritisiert, die nur aus einem undifferenzierten Verständnis zu erklären sei. So wie man versucht, an dem Terminus "Folklore" trotz des üblich gewordenen abwertenden Gebrauchs des Wortes festzuhalten, sollte man ebenfalls weiterhin die Tradition als einen bedeutenden Begriff  für die Kulturstudien ansehen. Sich Kulturtraditionen zu widmen würde nicht bedeuten, dass der Forscher traditionalistische Positionen vertritt. Von der Seite der Gesellschaft für die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft wurde angeregt, dass die Haltung der Volkskundler selbst in Bezug auf die Tradition und die Traditionspflege Gegenstand einer übergeordneten Kulturforschung werden sollte.





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