Erneuerung der Kulturstudien und Geschichts.- und Traditionsbewußtsein. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Erneuerung der Kulturstudien und Geschichts- und Traditionsbewusstsein
Sitzungen an der Lyra Sanjoanense, São João del Rey, 1970

Die zweite Hälfte der sechziger Jahren war in Brasilien von Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien geprägt, die zur Gründung einer Gesellschaft geführt haben, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit Problemen des Verhältnisses zwischen historischer und empirischer Kulturforschung wurde plädiert für eine Überwindung eines von Kategorisierungen des Untersuchungsgegenstandes geprägten Denkens, das die einzelnen Disziplinen bestimmte. Eine Orientierung der Aufmerksamkeit auf Prozesse, die zwischen den Kultursphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur verliefen, konnte den Weg zu einer transdisziplinär verstandenen Kulturwissenschaft ebnen. Die Beachtung von Vorgängen die "zwischen" den Sphären aufzuspüren waren bzw. durch ihre Grenzen hindurchgingen, konnte die Durchlässigkeit der angenommenen Trennwände aufzeigen und fördern (
siehe Bericht).

Sociedade de Concerts Sinfonicos S.Joao del Rey
Kulturkontexte, die sich der Forschung entzogen, da sie den Fachbereichen der bisherigen Disziplinen nicht zuzuordnen waren, schienen besonders günstige Voraussetzungen zur Vertiefung und Ausdifferenzierung der Überlegungen zu bieten. Dazu gehörten Städte, die weder durch die Kultur- und Musikgeschichte noch durch die Volkskunde oder durch die noch inzipienten Popularkulturforschung besondere Beachtung erfuhren. Eine Kulturbetrachtung dieser Kontexte verlangte hier die Beobachtung in loco, eine Feldforschung die sich allerdings nicht nach den Kriterien der Bestimmung des Studiengegenstandes der Volkskunde richtete, nämlich allein einer Volkskultur, deren Charakterisierung unstrittig war. Als Ziel einer solchen Beobachtung wurde die Stadt São João del Rey im Bundesstaat Minas Gerais gewählt, da sie durch den Aufwand ihrer kirchlichen Feste und Prozessionen bekannt war und als eine der wenigen Ausnahmen unter den Städten des brasilianischen Hinterlandes ein reges, traditionsgebundenes Kulturleben mit örtlichen Chören und Orchestern sowie Theatergruppen besaß. Durch volkskundliche Verfahrensweise - empirische Beobachtung bei aktiver Teilnahme - sollte ein anderer Zugang  gewonnen werden zur Untersuchung von Werken, Ensembles, Komponisten, Aufführungspraktiken u.a. Aspekten der lokalen Musikkultur, die primär Aufgabe einer historisch orientierten Musikkulturforschung gewesen waren. Das starke Geschichts- und Traditionsbewusstsein von São João del Rey hatte bis dahin verhindert, dass die liturgisch-musikalischen Reformen des II. Vatikanischen Konzils durchgeführt wurden, sodass dort noch in ununterbrochener Kontinuität eine Tradition der orchesterbegleiteten Kirchenmusik bestand, die auf die Zeit vor den restaurativen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückging. Die Stadt sah ihre jahrhundertealten Orchestervereine als wichtige Bestandteile ihres Kulturerbes, das maßgeblich ihr Geschichtsbewusstsein, ihr Bild und ihre Identität prägte.
P. José Maria Xavier
In aktiv teilnehmender Beobachtung und in beobachtender Teilnahme sollte somit kulturwissenschaftlich orientierte Musikgeschichtsforschung betrieben werden. Während der Karwoche - der bedeutendsten Zeit des Jahres für das religiöse Kulturleben von São João del Rey - wurde der Aufführung von orchesterbegleiteten Chorwerken örtlicher Komponisten des 19. Jahrhunderts beigewohnt. Es konnte erlebt werden, was es für die Gemeinschaften in der Vergangenheit bedeutet hat, mehrstündig während des Tages und am Abend an Feiern teilzunehmen, die von instrumentalbegleiteter Musik gestaltet waren. Diese Umstände erklärten, dass kaum Zeit für Proben blieb, dass viel vom Blatt gesungen und gespielt wurde, dass es breiten Raum für Improvisierungen und Improvisationen gab. Die Tatsache, dass Sänger, Instrumentalisten und Gläubige den ganzen Tag im Kirchenraum verbrachten, ließ auch keine scharfe Trennung zwischen dem Leben in der Kirche und dem Alltag entstehen; so wurde z.B. in den Gängen gegessen und geruht. Diese eigentümliche Atmosphäre prägte die Haltung der Teilnehmenden, wurde selbst zur Tradition und Teil des Kulturbewusstseins der Gemeinschaft. Was von europäischen Betrachtern und in Seminaren Europas im Geist der Restauration ausgebildeten Priestern als Ausdruck von Verweltlichung und Missbräuchen kritisiert und bekämpft wurde, war eigentlich Zeichen einer tiefgreifenden Interaktion von Sakralem und Weltlichem, was als Integralität des Kulturganzen interpretiert werden könnte. Da viele Werke aus einem nicht mehr erneuerten Repertoire des 19. Jahrhunderts stammten, waren sie bekannt und wurden z.T. auswendig gesungen und gespielt. Flötenspieler entwickelten vom Chor aus Improvisationen nach dem Stil traditioneller Nachtmusik zur Begleitung des Gregorianischen Gesangs der Priester am Altar. Selbst während des Vortrags großangelegter Werke wurden während der lange dauernden Aufführungen hinzukomponiert, bearbeitet und transponiert. Es entstand somit eine Kultur des spontanen Umgangs mit dem Gegebenen, eine Kultur der Spontaneität, die dem neuen Ansatz der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde zur Bestimmung von Volkskultur entsprach. In Aufführungspraktiken, Vortragsweisen, Haltung der Teilnehmer und unter vielen anderen Aspekten ließen sich nach diesem Definitionsansatz Merkmale einer "spontanen Kultur" finden. Nach der so verstandenen Volkskultur trat hier "Folklore" in der Sphäre der Kunstmusik und des Sakralen auf.

Hierbei zeigte sich jedoch ein Problem dieses theoretischen Ansatzes. Die neue Bestimmung der Volkskultur erfolgte in der Volkskunde aus dem Bedürfnis, die Kriterien zu ihrer Definition zu revidieren, allen voran dasjenige der Traditionalität. Die Entstehung spontanen Verhaltens und der spontane Umgang mit den Werken waren jedoch zutiefst in die Tradition eingebettet, resultierten sogar aus dieser Traditionsgebundenheit, die eine Vertrautheit mit dem Gegebenen begründete und Freiheitsraum für Umbildungen, Variationen, Adaptationen und Improvisationen gab.

Darüber hinaus ließ die in diesem Ansatz bestehende Betonung des spontanen, nicht geplanten und institutionalisierten Erlernens in der Volkskultur - im Gegensatz zum Erlernen im Bereich der Bildungskultur - Fragen aufkommen. Es gab ja durchaus geplantes Erlernen, da es um anspruchsvolle Chor- und Orchestermusik ging, die zumindst eine rudimentäre Beherrschung des Gesanges und des Instrumentalspiels verlangte; es gab aber auch ungeplantes, aus der Teilnahme an den Aufführungen, aus dem immer wieder vollzogenen Umgang mit demselbem Repertoire resultierendes Erlernen, das zwar nicht als schulmäßig, aber auch kaum als spontan bezeichnet werden konnte.

Diese Feststellungen zeigten die Probleme, die aus dem volkskundlichen Ansatz entstanden, und offenbarten, dass von der Volkskunde, die trotz aller Erneuerungsversuche von der Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes ausging, nicht eine zufriedenstellende Lösung zur kontextgerechten Kulturanalyse zu erwarten war. Dies konnte nur in einer zu entwickelnden, transdiziplinären Kulturwissenschaft erfolgen, die nach anderen Kriterien verfährt.





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