Empirische Kulturforschung und Analyse urbaner Prozesse. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Empirische Kulturforschung und Analyse urbaner Prozesse
Sitzung im Museum der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde 1971

Die Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien in Brasilien, die 1968 zur Gründung der Gesellschaft führten, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, führten zur Einsicht, dass eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse zur Überwindung festgestellter theoretischer Probleme beitragen und neue Perspektiven öffnen könnte (siehe Bericht).

Vor allem die Volkskunde, die sich mit Fragen ihrer Definition, Methode und vor allem der Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes auseinandersetzte, erhoffte dadurch die Überwindung der Schwierigkeiten, die sich aus der Orientierung an eine Sphäre der Volkskultur bzw. der Kultur "folk", welche sich von den Bereichen der Bildungs- und Popularkultur unterschied, ergeben.

Von den Kriterien, welche vielfach zur näheren Bestimmung des Bereiches der "Volkskultur" herangezogen wurden und seit Jahren Gegenstand kritischer Überlegungen waren, betraf eines den Bezug der Volkskultur zu einer bäuerlichen Kultur ländlicher bzw. nicht-urbaner Regionen. Da Ausdrucksweisen traditioneller Volkskultur auch in städtischen Gebieten, ja selbst in der Großstadt zu beobachten waren, waren sich die Volkskundler der Fragwürdigkeit dieses Kriteriums bewusst.  Die Bemühungen zur Neubestimmung des Gegenstandes der volkskundlichen Forschung orientierten sich zunehmend an der Unterscheidung zwischen der Bildungskultur, die durch geleitete Erziehung geformt wurde, der Popularkultur, die durch Massenmedien verbreitet wurde, und der Volkskultur, die informell, nicht-geleitet, bzw. "spontan" entstand. Die Volkskunde würde sich dann einer "spontanen Kultur" widmen, die auch im urbanen, ja metropolitanen Kontext vorhanden und in Veränderung begriffen, d.h. nicht unbedingt traditionsgebunden ist.

In Kreisen der Fakultät für Architektur und Urbanistik der Universität São Paulo wurde über die Schwierigkeiten einer Unterscheidung zwischen ruralen und urbanen Regionen debattiert. Zwischen beiden ließe sich keine scharfe Grenze ziehen, da der Übergang von Stadt zu Land nicht etwa, wie von Mauern umgeben, festumrissen ist. Es ließ sich eher von einem Prozess der Erschließung, Ausdehnung städtischer Netzwerke und urbaner Konfigurierung sprechen. Dieser Prozess entwickelte sich selten nach Plan, vorbestimmten Maßgaben und unter Kontrolle. Regulierungen, Korrekturen und Verbesserungen - selbst hinsichtlich der Infrastruktur - erfolgten vielfach erst nachträglich. Bei der Analyse des Entstandenen und Entstehenden reichte also nicht die Beachtung eventuell vorhandener Projekte und Planungsunterlagen aus. Es mussten Kriterien eruiert werden, um die analytische Vorgehensweise zu begründen.

Ansätze hierfür schienen durch die neuen Tendenzen der empirischen Kulturforschung gegeben zu sein. In Zusammenarbeit von Architekturstudenten und Volkskundlern wurden Beobachtungen, Erhebungen und Befragungen in verschiedenen Stadtvierteln und in der Peripherie São Paulos durchgeführt, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Stadt wahrgenommen wurde. Es ging u.a. darum zu erfahren, wie die Bewohner Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie wahrnahmen, zwischen Zentrum und Zentren der Stadtviertel und der eingemeindeten Städte, sowie Identitätsfragen der Bewohner der verschiedenen Stadtteile und deren Bild in der Wahrnehmung der Einwohner und von Fremden zu untersuchen. Das empirisch festgestellte Bild von Stadtvierteln und eingemeindeten Städten wurde verglichen mit dem von der Geschichte her bekannten, um Unterschiede in der Wahrnehmung und Veränderungen festzustellen. So gab es z.B. ehemalige Wohngegenden mit gehobener Lebensqualität, die durch Industrialisierung oder Errichtung von Bürogebäuden eine Abwertung oder urbane Degradierung erfahren hatten, was nicht immer mit dem überlieferten Bild korrelierte. Durch Befragungen wurde auch das mentale urbane Bezugssystem untersucht, d.h. die Orientierung der Einwohner und Fremden an Referenzpunkten im Stadtbild, prägenden Gebäuden, Brücken, Plätzen,  Bäumen, Plakaten u.a..

Die ungeplante Konzentration von Industrie oder Fachgeschäften auf bestimmte Straßen oder Stadtviertel erlaubte auch Schlussfolgerungen hinsichtlich der Wahrnehmung des Stadtteilbildes. Als eine besonders wichtige Aufgabe wurde die Erhebung der Stadtteile angesehen, in denen sich Immigranten bestimmter Nationalität oder Migranten aus anderen Regionen Brasiliens konzentrierten. Einige Stadtviertel wurden in der Vergangenheit stark durch diese Immigration geprägt und erfuhren dadurch eine Veränderung ihrer ursprünglichen Eigenarten; im Verlaufe der Integration und Assimilation der Einwanderer jedoch verloren sie wieder diese neu gewonnene Indentität. Bei der damals besonders aktuellen innerbrasilianischen Migration ging es um das Bild und den Kulturwandel von Stadtteilen und Teilen des Zentrums und deren Wahrnehmung durch die Alteingesessenen. 

Es wurde somit der Versuch unternommen, unter Anwendung empirischer Vorgehensweisen einer Volkskunde, die nun ihren Forschungsgegenstand als eine  "spontane Kultur" verstand, eine Analyse urbaner Prozesse unter Verwendung von Konzepten der Stadtplanung, u.a. hinsichtlich Sektoren-, Funktions- und Zoneneinteilungen, vorzunehmen. Dadurch sollten urbanistische Fragen in der Volkskunde Berücksichtigung finden und zugleich kulturwissenschaftlich geleitete Analysen urbaner Konfigurationen im Bereich von Architektur und Städtebau gefördert werden. Für die Diskussion des ersten Ansinnens - eine urbanologisch ausgerichtete Volkskunde - fand eine Sitzung im Museum der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde statt; dem zweiten Anliegen waren Gesprächsrunden an der Fakultät für Architektur der Universität São Paulos gewidmet.





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