Ethnomusikologie als Umbenennung von Volkskunde im Zeichen der Militärdiktatur. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Ethnomusikologie als Umbenennung von Volkskunde im Zeichen der Militärdiktatur
Sitzung im Museum der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde (1971)

Die Ethnomusikologie wurde in Brasilien als Disziplin im Rahmen des Hochschulstudiums 1972 eingeführt. Die bis dahin vereinzelt verwendete Fachbezeichnung stellte lediglich eine Umbenennung des Faches (musikalische) Volkskunde dar. Diese war von ihrer Instrumentalisierung für nationalistische Zielsetzungen und ihrer Institutionalisierung zur Zeit des autoritären Regimes der 30er und 40er Jahren belastet und befand sich nun in einer Situation, die von komplexen Bemühungen um Erneuerung durch eine Redefinition ihres Forschungsgegenstandes geprägt war.

Die Umbenennung des Faches in Ethnomusikologie entsprach nicht nur einer Modeerscheinung, einer Übernahme von als aktuell und zukunftsweisend erscheinenden Tendenzen der Vereinigten Staaten zur Zeit der Militärdiktatur Brasiliens. Sie schien einigen Volkskundlern als eine Möglichkeit, die notwendige, aber verwirrend erscheinende Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen dieses Fachbereiches zu umgehen. Die alleinige Umbenennung der (musikalischen) Volkskunde in Ethnomusikologie bedeutete zunächst keine neue Disziplin, keine grundsätzliche Änderung von Perspektiven und Methoden, sondern lediglich eine Verdrängung von theoretischen Problemen der Volkskunde, die ungelöst blieben. Sie verleitete sogar zu einer Einbeziehung von Kulturkomplexen, die Forschungsgegenstand der Ethnologie waren - vor allem die indigene Kultur -, in die umbenannte Volkskunde. Sie förderte somit eine Sichtweise, die von der Kultur des Betrachters bestimmt war und sich auf die eigene, nicht auf die fremde Kultur richtete. Die so verstandene Ethnomusikologie wurde somit mehr als das explizit sich Volkskunde nennende Fach, das sich immerhin von der Ethnologie unterschied, d.h. von einem Fachbereich, der bemüht war, aus der Sichtweise eines anderen Kulturkomplexes heraus vorzugehen, zum Ausdruck eines hegemonialen Ansinnens von Betrachtungsweisen der herrschenden Kultur und Gesellschaft und somit der kolonialen Tradition und des Eurozentrismus.

Die Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien der damaligen Zeit hatten ins Bewusstsein gebracht, dass die Bestimmung von Disziplinen mit einer Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes zusammenhing, d.h. in musikalischer Hinsicht mit der Unterscheidung zwischen Kunst-, Volks- und Popularmusik im Kulturkontext des Betrachters. Das Bewusstsein der Durchlässigkeit dieser Sphären und die geforderte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse, die zwischen ihren Trennwänden verliefen, prägten Erneuerungsbestrebungen in den verschieden Disziplinen. Die Bemühungen im Rahmen der Volkskunde, die Volkskultur neu zu definieren, bedingten eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Fragen des formellen oder informellen, geleiteten oder spontan verlaufenden Erlernens und der Sozialisation und somit auf Kulturphänomene, die als "spontan" in allen anderen Sphären aufzuspüren und zu untersuchen seien (siehe Bericht). Dagegen plädierte die 1968 als Gesellschaft konstituierte Erneuerungsbewegung zu Studien von Kulturprozessen, die die Entwicklung einer transdisziplinären Forschung anstrebte, für die allmähliche Überwindung der Kategorisierungen des Betrachtungsgegenstandes in Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularmusik.

Die ledigliche Umbenennung des Faches Volkskunde in Ethnomusikologie versetzte sie nicht in die Lage der zu entwickelnden transdisziplinären Kulturwissenschaft, sondern in die einer der Disziplinen des Fächersystems, das aus der Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes in Bildungs-, Volks- und Popularbereich resultierte. Nur war diese Zuordnung nicht mehr explizit aus der Bezeichnung des Faches erkennbar. Dagegen trat der Begriff der Ethnie in den Vordergrund, und anstatt "Folklore" sowie Kulturerscheinungen mit der Konnotation "folk" in allen Kultursphären untersuchen zu wollen, wurde die Aufmerksamkeit auf "Ethnisches" gerichtet. Dies weckte Assoziationen an Konzepte der längst überwunden geglaubten Vergangenheit, als die Doktrin der "drei Rassen" bei der Formung der Kultur Brasiliens die Überlegungen sowohl in der Volkskunde als auch in der nationalistischen Musikgeschichtsschreibung prägte. Mit Sorge bemerkten Volkskundler, die sich um die Erneuerung des Faches bemühten, ein Wiederaufleben unter neuen Vorzeichen des an Abstammung und Rasse orientierten Denkens.

Bezeichnenderweise wurde nicht im Kreis traditionalistischer, sondern progressiven Volkskundler im Rahmen der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde die Umbenennung der (musikalischen) Volkskunde in Ethnomusikologie kritisiert. Man sah darin unter dem Deckmantel des Fortschritts eine Revitalisierung reaktionärer Strömungen des Denkens, die letztlich rassisch-völkischen Vorstellungen zugrunde lagen und der politischen Situation des Landes unter dem Militärregime entsprachen. Die Volkskunde war bemüht, vorsichtig genug zu sein, um indigene Kulturen in ihren Fachbereich nicht zu integrieren, die das Recht hatten, von ihren eigenen Voraussetzungen und von innen heraus betrachtet zu werden. Die Umbenennung sollte nicht diese Sorgfalt zunichte machen, die Kulturforschung von indigenen Gesellschaften durch die nationale Volkskunde zu vereinnahmen. Entsprechend der bis vor einigen Jahren geltenden Terminologie, die Ethnographie und Volkskunde im Fächerkanon der Hochschulen der Musiklehrerausbildung vorsah, sollten weiterhin beide Disziplinen bestehen bleiben, und dies vor allem wegen der indigenen Kulturen, die nicht durch die Hintertür der nationalen Volkskunde subsumiert werden sollten. Die Untersuchung von kulturellen Sphären innerhalb des Kontextes des Betrachters unter dem Begriff Ethnie wurde - vor allem hinsichtlich der Immigration - zwar als durchaus möglich anerkannt, sie sollte jedoch nicht den Anspruch erheben, Leitprinzip des Faches zu sein.

Antonio Alexandre Bispo





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