Ethnomusikologie in Brasilien. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Ethnomusikologie in Brasilien: Institutionalisierung und kulturtheoretische Auseinandersetzung
Vorbereitungssitzungen zur Einführung des Faches in das Hochschulstudium (1972)

1. Handbuch zur Musikethnologie. A.A.Bispo São Paulo 1972
Die Ethnomusikologie als Disziplin des Hochschulstudiums wurde 1972 im Rahmen der Lizentiatur für Musik- und Kunstzerziehung - den Vorgaben der vom Kultusministerium eingeleiteten Reformen, insbesondere der Lehrerausbildung, folgend  - eingeführt.

Mehrere Hunderte von Musiklehrern an Schulen und Gymnasien, die unter dem von H. Villa-Lobos zur Zeit des autoritären Regimes der 30er und 40er Jahre entwickelten "Orpheonischen Gesangs" ausgebildet und bereits im Schuldienst tätig waren, wurden zu einer Revalidierung ihrer Berufsbefähigung zur Erlangung des Lizentiatgrades verpflichtet. Hinzu kamen zahlreiche Studienanfänger, die durch die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Aufwertung des Musik- und Kunstfaches im Schulsystem ergaben, ein Lizentiat in Musik- und Kunsterziehung anstrebten.

Das Fach wurde auch verpflichtend im Rahmen der Graduierung in Vokal- und Instrumentalausbildung, zur Erlangung des Bachelortitels in Komposition und Dirigieren sowie als Spezialisierung für Graduierte angeboten. Für die Ethnomusikologie wurden an der Fakultät für Musik- und Kunsterziehung São Paulos 6 Semester vorgesehen und eine Gewichtung bei der Erlangung von "credits", was ihr eine im Vergleich zu anderen Fächern unvergleichlich höhere Bedeutung verlieh.

Die Ethnomusikologie ersetzte das Fach (musikalische) Volkskunde bzw. Folklore im von Villa-Lobos geprägten System der Lehrerausbildung und des obligatorischen Kanons der Nebenfächer des Musikhochschulstudiums. Der Terminus war bis dahin punktuell für einzelne freie Kurse vor der Reform des Hochschulsystem verwendet worden - so in Bahia -, jedoch nicht als Bezeichnung für eine Hochschuldisziplin in dem vorgesehenen Umfang. Das Fach wurde verstanden als eine Umbenennung der Volkskunde mit einer aus seiner Bezeichnung her suggerierten Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Ethnisches.

Als Ersatz bzw. neue Bezeichnung für die Volkskunde rief die Ethnomusikologie Kritik von denjenigen Volkskundlern hervor, die sich um eine konzeptuelle Erneuerung des Faches bemühten, da es durch seine Instrumentalisierung im Rahmen nationalistischer Kulturpolitik autoritärer Regime der Vergangenheit belastet war.

Aus dem Handbuch zur Musikethnologie. A.A.Bispo 1972
Der neue, Anregungen aus den USA aufnehmende Terminus Ethnomusicology für die Volkskunde entsprach der auf Entwicklung, technokratische Modernisierung, Integration des Territoriums und nationale Sicherheit ausgerichteten Politik im Sinne des "Vorwärts Brasilien!" des rechtsgerichteten Militärsystems und weckte Sorgen, vermeintlich längst überholte nationalistische Konzepte in reaktionärer Weise unter neuer Bezeichnung wiederaufleben zu lassen und die theoretischen Erneuerungsbemühungen der Volkskunde zu unterdrücken.

Vor allem die Subsumierung der indigenen Kulturen unter die so umbenannte Volkskunde wurde von kritischen Kulturforschern als untragbar empfunden, da sie faktisch eine Integration der indigenen Kulturen in die Kultur des nationalen Betrachters bedeutete. Hier wurde eine wissenschaftliche verbrämte Vereinahmung vermutet, die indigenen Rechten auf eigene Kultur und selbstgeleitete Entwicklungen widersprachen (siehe Bericht).

Da jedoch die Ethnomusikologie als Fach offiziell institutionalisert war, stellten progressive Volkskundler die Forderung auf, sie nach Möglichkeit neben einer selbständigen Volkskunde in dem Sinne zu betreiben, dass sie selbst zum Gegenstand der Betrachtung wurde. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sollten die Geschichte des Faches, die Kontexte seiner Entwicklung, die Tendenzen des Denkens seiner Vertreter und die kritische Prüfung seiner Konzepte und Methoden stehen. Übernommen werden sollten Impulse und Anregungen nur nach sorgfältiger Analyse ihrer Kontexte und der Denkmuster und Haltungen ihrer Vertreter. Dafür war es notwendig, eine umfassende Erhebung der in den Bibliotheken und im privaten Besitz vorhandenen europäischen und nordamerikanischen Literatur zur vergleichenden Musikwissenschaft, Ethnomusikologie/Musikethnologie, Musikanthropologie oder anderen, fachlich verwandten Denominationen durchzuführen sowie in Brasilien nicht vorhandene Publikationen anzuschaffen.

Hierfür und für die Besprechung von Themenkomplexen, die eine Diskussion besonders erforderten, wurde eine Kommission gebildet. Zu ihr gehörten neben eingeladenen Volkskundlern aus dem Kreis der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde u.a. Oneyda Alvarenga als Direktorin der besten Fachbibliothek für Musik Brasiliens, Helza Cameu, die eng mit dem Anthropologen Darcy Ribeiro zusammenarbeitete und am Indio-Museum in Rio de Janeiro eine Einführung in die indigene Musik vorbereitete, Desidério Aytai, der Forschungen bei indigenen Gruppen an den Fronten der durch den Bau von Straßen erschlossenen Regionen in Zentralbrasilien und Amazonien durchführte, Martin Braunwieser, der als Musikexperte bei der großangelegten Forschungsexpedition des Kulturamts von São Paulo in den Nordosten Brasiliens in den dreißiger Jahren gewirkt hatte und Luís Heitor Correa de Azevedo, ehemaliger Bibliothekar des nationalen Musikinstituts Brasiliens und Professor für Volskunde, der durch die von ihm bekleidete führende Stellung beim Internationalen Musikrat/UNESCO von Paris aus die Vermittlung zu Forschern verschiedener Länder Europas herstellte. Besondere Kontakte wurden zu Marius Schneider in Köln geknüpft. Das Interamerikanische Institut für Musikwissenschaft in Montevideo unter Leitung von Francisco Curt Lange sollte den Gedankenaustausch mit Forschern anderer lateinamerikanischer Länder herstellen. Eine besondere Bedeutung sollte dabei auf Venezuela gerichtet werden, wo eine rege Tätigkeit hinsichtlich Folklore-Forschung und Ethnomusikologie zu verzeichnen war. Rossini Tavares de Lima, Vorsitzender der Gesellschaft für Volkskunde, pflegte außerdem Kontakte zu mehreren Forschern des In- und Auslandes, vor allem solchen aus Italien, in deren Auffassungen er eine besondere Affinität zu seinem Denken verspürte.

Für die 1968 gegründete Organisation für Studien von Kulturprozessen (ND), die eine Erneuerung der Kulturstudien anstrebte, stellte die Ethnomusikologie Probleme hinsichtlich einer zu entwickelnden transdisziplinären Kulturwissenschaft dar. Eigentümlichweise wurde die Ethnomusikologie in Brasilien vor der Musikwissenschaft an sich eingeführt. Selbst die Musikgeschichte war im Fächerkanon für die Musiklehrerausbildung nicht mehr vorgesehen. Die Ethnomusikologie übernahm somit in ungebührlicher Weise eine übergeordnete Rolle musikwissenschaftlich ausgerichteter Fächer. Die nähere Bestimmung, die aus ihrer Bezeichnung hervorging, suggerierte jedoch eine Spezifizierung oder gar Kategorisierung ihres Studiengegenstandes. Ziel der Gesellschaft war jedoch die allmähliche Überwindung von Kategorisierungen des Objekts, die Fächer definierten. Die Musikethnologie konnte somit für sich nicht die Stellung einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten, übergeordneten Musikwissenschaft beanspruchen und eine solche ersetzen.

Fakultät für Musik-und Kunsterziehung São Paulos
Eine Gleichsetzung von Musikethnologie mit einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Musikwissenschaft als übergeordneter Fachbezeichnung, wie sie zuweilen zu vernehmen war, musste als Ausdruck von Unreflektiertheit, Anmaßung oder Unkenntnis bewertet werden. Da die Ethnomusikologie jedoch institutionalisiert worden war, sollte auch sie zur Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft beitragen, indem sie in ihrem Rahmen die Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes richtete. Da Prozesse Abläufe in der Zeit darstellen, musste sie sich auch mit historischen Fragen beschäftigen. Dafür war eine gründliche Erhebung von Quellen und ihre kritische Durchsicht zur Aufspürung und Untersuchung von musikethnologisch relevanten Kulturprozessen nötig. Da allerdings - wie gefordert - die Ethnomusikologie selbst Gegenstand der Betrachtung sein sollte, sollte dementsprechend auch hier die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die in den Quellen vermittelten Daten, sondern auf die Beobachter, d.h. auf die Autoren der Quellen, auf Voraussetzungen und Kontexte gerichtet werden. Mit dieser Absicht wurde eine systematische Erhebung von Dokumenten in Gang gesetzt.

Antonio Alexandre Bispo





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