Alltagskulturforschuing in multikulturellen Situationen. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Alltagskulturforschung in multikulturellen Situationen
Fakultät für Musik- und Kunsterziehung São Paulos, Gesellschaft für Studien von Kulturprozessen (1973)

Die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft war Ziel der 1968 in São Paulo gegründeten Gesellschaft für Studien von Kulturprozessen. Sie ging zurück auf Überlegungen über das Verhältnis zwischen historischen und empirischen Vorgehensweisen bei Kulturstudien und plädierte für eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes. Dadurch sollte eine Fixierung des Studieninteresses auf Kultursphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur überwunden werden, die bisher die Konzeptionen und Methoden einzelner Disziplinen bestimmt hatten. Diese Ausrichtung sollte auch im Fach Ethnomusikologie zum Tragen kommen, das 1972 nach langen Debatten in das Hochschulsystem eingeführt wurde (
siehe Bericht).

Wenn auch abzulehnen war, dass die Ethnomusikologie den Anspruch erheben durfte, die angestrebte transdisziplinäre Kulturwissenschaft oder selbst eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Musikwissenschaft an sich - die ja übergeordnet sind - zu verkörpern, sollte sie selbst - wie andere Disziplinen auch - kulturwissenschaftlich orientiert sein.

Die Ethnomusikologie war unter der Prämisse eingeführt worden, dass sie selbst zum Gegenstand der Betrachtung wurde, d.h. die Auseinandersetzung mit ihren Voraussetzungen, Entwicklungen, Methoden, Theorien, Kontexten, dem Denken und den Netzwerken ihrer Vertreter sollte das zentrale Anliegen bei einer reflektierten Einführung des Faches sein (siehe Bericht). Entsprechend den Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien sollte diese Auseinandersetzung nicht nur durch die Betrachtung der Geschichte des Faches, sondern auch bei der Durchführung empirischer Vorhaben zum Tragen kommen. Bei Beobachtungen und Feldforschungen sollten an Hand des konkreten Beispiels eines zu untersuchenden Vorganges die Auffassungen, Interpretationen und Erläuterungshypothesen verschiedener Vertreter des Faches betrachtet werden.

Die große Mehrheit der Studenten der Ethnomusikologie bestand aus Musiklehrern an Schulen und Gymnasien, die durch Gesetz verpflichtet waren, ihre Lehrbefugnis durch die Erlangung eines Lizentiats in Musik- und Kunsterziehung zu revalidieren. Sie waren im Zeichen des maßgeblich von Heitor Villa-Lobos geprägten "Orpheonischen Gesangs" ausgebildet worden und im Schuldienst aktiv tätig. Es lag nahe, dass sie die vorgesehene empirische Forschung als praktische Examensarbeit im Umfeld ihrer Tätigkeit durchführten.

Die eingehende systematische Beobachtung und die Untersuchung von Kulturfragen der Schüler konnten darüber hinaus Voraussetzungen schaffen, damit sie und ihre Schulen reflektierter mit den kulturellen Voraussetzungen und Kontexten der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen umgehen konnten. Somit war es möglich, kontextgerechte und kulturell angemessene Erziehungsformen, -inhalte und Schulpraktiken zu entwickeln. Die durch die Studenten vertretenen Schulen unterschieden sich nicht nur hinsichtlich des Grades (Primär- oder Sekundarstufe). Unter ihnen waren Schulen von Städten und ländlichen Gebieten des Hinterlandes, von expandierenden Frontregionen, von sozial privilegierten Stadtteilen der Metropole und vor allem von ärmeren Stadtvierteln und Peripherien. Diese Schulen des metropolitanen Raumes wiesen kulturell äußerst unterschiedliche Schülerschaften auf. Einige befanden sich in Bezirken, die vor allem von Immigranten bewohnt waren und dementsprechend multikulturell geprägt waren. Es gab beispielsweise Schulen, bei denen Schüler mit japanischer Herkunft überwogen, andere wiesen neben japanischen auch koreanische und chinesische Jugendliche auf. Sie wurden neben brasilianischen Schülern auch mit Kindern von Immigranten anderer Herkunft unterrichtet, so u.a. Armeniern, Libanesen, Spaniern und Portugiesen. Es gab auch mehrerer Schulen, vor allem aus peripheren Stadtvierteln, die von Kindern von Migranten aus dem Nordosten Brasiliens besuchten wurden.

Nach den nationalistisch geprägten Prinzipien des "Orpheonischen Gesanges", der gemeinsames Singen von brasilianischen Volksliedern und ein Chorrepertoire forderte, das vor allem aus Bearbeitungen von Volksliedern oder auf Volksmusikmaterialien basierenden Kompositionen bestand, sollte das nationale und soziale Zusammengehörigkeitsgefühl der jungen Menschen gefördert werden. Die Lehrer, die bis dahin nach diesen Auffassungen und unter Benutzung der entsprechenden Musikliteratur gehandelt hatten, sollten nun eine andere Vorgehensweise erproben. Anstatt national konnotierte Volkslieder zu unterrichten, sollten sie Lieder, Tänze und Spiele beobachten und festhalten, die ihre Schüler kannten und in den Schulalltag mitbrachten, sowie ihre Akzeptanz durch Schüler mit anderem kulturellen Hintergrund, ihre Adaptationen und ihre Veränderungen aufmerksam verfolgen.

Die Alltagskulturforschung war bereits seit Jahren im Rahmen der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde betrieben worden. In Kursen, die das Volkskundemuseum São Paulos anbot, gehörte die Durchführung einer Alltagskulturforschung im Rahmen einer Selbstkulturanalyse der angehenden Volkskundler zu den Voraussetzungen für die Erlangung eines Zertifikats. Dies entsprach Erneuerungsbestrebungen, die versuchten, die Volkskultur nicht mehr nach überkommenen Kriterien, vor allem der Traditionsgebundenheit, sondern nach dem informellen, im Unterschied zur Bildungskultur nicht geleiteten Zustandekommen einer "spontanen Kultur" aufzufassen.

Im Rahmen der kulturwissenschaftlich orientierten Ethnomusikologie sollte in den komplexen Situationen des Zusammenlebens von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen nicht die Konstatierung von Residuen von Kulturtraditionen aus den Herkunftssphären der Immigranten und Migranten Ziel der Bemühungen sein, sondern die Beobachtung ihres Wandels, ihrer Permanenz oder Aufgabe sowie der Rolle, die sie hinsichtlich Integration oder Ausdifferenzierung der Einzelnen und der Gruppen spielten.

Nicht die Förderung von Folklore verschiedener Nationen bei Schulfesten sollte der Sinn der Bemühungen sein, sondern die Schaffung von Grundlagen zu einer reflektierten Begleitung von Interaktionen. Dabei wurden die Ansätze der Musikethnologie - vor allem nordamerikanischer Kreise - kritisch diskutiert. Die dort vielfach geübte Praxis, Studenten der Musikethnologie zum Spiel traditioneller Musikinstrumente fremder Kulturen anzuleiten, schien oberflächlich, theoretisch unreflektiert und nicht für ein kulturwissenschaftlich orientiertes Verständnis dienlich. Selbstverständlich konnte sich ein Student der Ethnomusikologie aus privatem und künstlerischem Interessen z.B. dem Spiel japanischer oder arabischer Musikinstrumente widmen - und einige taten dies -, für die Aufgabe, Prozesse zu beobachten, zu untersuchen und sie mit Reflexionen zu begleiten, war dies jedoch nicht erforderlich oder in manchen Fällen nicht sinnvoll.





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